Berliner Szenen: Größte Dankbarkeit
Meine Gazelle
Gazelle ist eine holländische Fahrradmarke. Die Firma produziert seit über hundert Jahren klassische Hollandräder: schwerer Stahlrahmen, sicher auf der Straße liegend. Ich habe mal viel Geld für meine Gazelle bezahlt. Aber seit der Bremszug, eine Stange aus Metall, gebrochen und kein Ersatzteil zu bekommen ist und niemand das Ding zusammengeschweißt bekommt, weil die Stange komisch legiert ist, habe ich auch die Nachteile solcher exklusiven Gefährte kennengelernt. Dann habe ich den Schlüssel für das eingebaute Rahmenschloss verloren, mir ein Restposten-Mountainbike gekauft, und die Gazelle fing im Keller Staub.
Gestern Abend habe ich mich endlich dazu durchgerungen, den Drahtesel zu verschenken, habe eine Anzeige im Internet aufgegeben, ein Foto hochgeladen und den Computer ausgeschaltet.
Am nächsten Morgen hatte ich über hundert E-Mails von Leuten, die das Rad haben wollen. Die sind irgendwie auch ein Bild der Berliner Stadtgesellschaft. Manche sind in rudimentärstem Deutsch verfasst („Kann Fahrrad haben?“), andere erzählen lange, gewundene Geschichten, um die Bedürftigkeit des Absenders zu beweisen. Mindestens 30 Interessenten wurde am Tag zuvor oder kürzlich das Rad geklaut. Eine Mutter schildert mir ihre Not, weil sie nicht mehr ihr Kind zur Kita fahren kann. Andere weisen darauf hin, dass sie Hartz-IV-Empfänger sind oder für ihre Eltern sorgen müssen. Der „größtmöglichen Dankbarkeit“ könne ich sicher sein, lese ich. Einen Troll, der mich fragt, ob ich denn überhaupt Papiere für das Rad habe, gibt es auch.
Unglaublich, wie viele Menschen lange nach Mitternacht bei Ebay nach Geschenken suchen. Das „Kritische Lexikon der Gegenwartskunst“, das ich auch im Angebot habe, will allerdings niemand haben.
Tilman Baumgärtel
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