Stuttgartblick Im Südwesten sind wir längst das Musterland der ordentlichen Empörung. Der Albtraum aus Kittel­schürze und Kehrwoche ist vorbei. Hier wird sogar gekifft. Wenn’s keiner mitbekommt – auch wurschd
: Wir sind
Schwabenpunk

Illustration: Juliane Pieper

Von Kontext-Redakteur Josef-Otto Freudenreich

Neulich auf Arte: „Stuttgart – das neue Seattle“. Hoppla, denken sich die Schwäbin und der Schwabe, was ist da passiert? Wird doch nix schiefgegangen sein. Nein, ist es nicht. Die Punkband „Die Nerven“ wurde vom bilingualen Kulturkanal geadelt, mit einem langen Beitrag. Das sei der Ritterschlag, sagt Kontext-Volontärin Elena Wolf, die nebenbei noch die Frontfrau von „Ursus“ macht, ebenfalls einer Punkband. Und danach streift die Kamera durch verkiffte WGs, durch die ebenso ungekehrten Wagenhallen, das Eldorado für alle Kreativen am Neckar, um schließlich mit der O-Ton-Frage zu enden: Was geht eigentlich gerade in Stuttgart ab?

Tja, liebe Berliner, Exilschwaben und sonstigen Nicht-Baden-Württemberger, da ist einfach Musik drin, im südwestlichen Zipfel der Republik. Die taz hat das früh erkannt, und aus der Erkenntnis erwuchs die Kooperation mit Kontext, mit der beide Partner, in aller Unabhängigkeit, sehr zufrieden sind. Das Wahl-Special bringt das richtig gut zum Ausdruck.

Erinnert sei an dieser Stelle auch an Stuttgart 21, an den beharrlichen Wider­stand gegen ein blödsinniges Immobilienprojekt. Und genauso nachdrücklich sei betont, dass dessen Bau nur in Berlin als gesichert gilt beziehungsweise dessen Gegner zu Toten erklärt werden. Das ist nicht so, denn in den Köpfen lebt das Aufständische weiter. Da fragt mal den linken Theatermann Volker Lösch, dessen Furor ungebrochen ist. Er will den S-21-Protest gar zum Prinzip erheben. Gegen alles, was finster ist. Pegida, AfD, Fremdenhass. Das Rebellische in diesem Landstrich kommt langsam, hält dafür aber auch länger.

Immerhin war Kretschmann auch mal beim KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland. Nun verteilt der Ministerpräsident längst keine Kommunistische Volkszeitung mehr vor den Werkstoren, was seinen Landeskindern womöglich unheimlich erschienen wäre. Aber a bissle erweckt er noch den Eindruck, als sei er ganz bei ihnen. Jedenfalls näher als Guido Wolf (CDU), das politische Phantom, das bundesweit erst aufgefallen ist, als es der Kanzlerin ein Plüschtier überreicht hat. Jener Wolf, so heißt es, durfte den Herausforderer nur deshalb geben, weil sein Mitbewerber, der Schäuble-Schwiegersohn Thomas Strobl, einen kapitalen Fehler gemacht hat: eine Homestory in der Bunten. Ein Häusle baut man, zeigt es aber nicht. Zumindest nicht bei den Schwarzen.

Die Grünen sind da offener. Kretschmann bekennt sich zu seinem dicken Dienst-Daimler, weil er in Mercedes-City keinen Fiat fahren kann, sein Bündnis freut sich über einen dicken Scheck des Arbeitgeberverbandes Südwestmetall und verkündet, es sei die „neue Wirtschaftspartei“ im Südwesten. Missgünstige Menschen sprechen auch von einer grünen FDP. Von der SPD spricht eigentlich niemand mehr. Es sei denn mit einem Schulterzucken.

Nun ist die Frage, wie hoch das Empörungspotenzial ist, links von der Mitte, in der sich CDU, SPD, FDP und Grüne gegenseitig auf den Füßen stehen. Es ist ja nicht so, dass alle Kretschmann umschwärmen wie die Motten das Licht. Die leidenschaftlichen S-21-­Gegner gewiss nicht. Jene, die sich viel mehr vom „Gehörtwerden“ versprachen, nicht. Jene, die mehr soziale Gerechtigkeit fordern, nicht. Jene, die eine solidarische Flüchtlingspolitik wollen, nicht. Jene, die einfach mehr Punk und Power wollten, nicht.

Wie groß diese schwäbisch-badische APO ist, weiß niemand. Aber Obacht: Stuttgart ist nicht nur die Hauptstadt des Feinstaubs und der Staus, Stuttgart ist auch eine Metropole der Demos. Rein rechnerisch finden hier 3,39 Protestaktionen am Tag statt, summa summarum 1.239 im Jahr 2015. Ja, es kann ganz schön bunt sein in dieser Stadt, in der es eben nicht nur Daimler, Porsche und Weindörfer gibt. Wohin das Bunte wandert, so es denn in einer Urne landet, kann niemand vorhersehen.

Klar ist nur, dass ein „Weiter so“, eine Kroße Koalition der geschmeidigen Mitte, stinklangweilig wäre. Ein Zurück zu Kittelschürze und Kehr­woche – ein Albtraum. Die „Lümmel im Landtag“, wie unsere Volontärin Elena schrieb, brauchen dringend Feuer unterm Hintern. Wir wollen doch, dass das Muster­land, ganz selbstbewusst, ein Muster wird für Menschen, die sich noch richtig empören können. Und gehört werden.