Schon wieder in Übergangsklamotten

NEUES LEBEN Das Kindl-Eck ist jetzt ein Kiosk, und in Kondolenzschreiben wird das Aus des Sanderstübls beweint – erste Erkundungen eines ganz frischen Nordneuköllners mit Kreuzberg-Vergangenheit in seinem neuen Kiez

Es gibt sonntägliche Brunchgruppen, wichtigtuende Projektbesprechungen, Cafébetreiberinnen, die den Nachwuchs gleich selbst mitbringen

VON RENÉ HAMANN

Warme Heizungsluft steigt auf. Ich sitze am endlich wieder aufgebauten Schreibtisch in meinem neuen Wohnzimmer. Drehe ich den Kopf nach links, habe ich einen weiten Ausblick. Bäume, zwei Kirchen, eine stille Kita, hinten die Häuserreihe der Framstraße. Das wirklich Besondere, man sollte es nicht glauben, ist das mit der Heizungsluft. Ich wohne jetzt in Nordneukölln, im Reuterkiez, im sogenannten Kreuzkölln. Ich wohne, ganz Gentrifizierungsgewinner, in einer Zweiraumwohnung mit funktionierenden Heizungskörpern. Vorher habe ich in Kreuzberg gewohnt. Im SO 36, Waldemarstraße, in einer Altbauwohnung mit Mitbewohner. Und mit Kohleöfen.

Besonders in der Framstraße haben sich die Anwohner hier zu Weihnachten mit Lichtschmuck gegenseitig überboten. Als der Schnee noch lag, kurz vor der weihnachtlichen Hitzewelle, schlitterten, torkelten, rutschten erwachsene Männer und Frauen, die sich bis zur Unkenntlichkeit zugeknöpft und mit dicken Sachen verkleidet hatten, über die knappen Gehsteige. Jetzt geht man schon wieder in Übergangsklamotten.

Es fällt auf, dass die Kinderwagendichte im Reuterkiez höher ist als rund um die Oranienstraße. Aber klar, bei dem Kiez, der natürlich zum guten Wohnen da ist und im Gentrifikationskarussell schon eine Runde weiter: Es gibt sonntägliche Brunchgruppen, wichtigtuende Projektbesprechungen, Cafébetreiberinnen, die den Nachwuchs gleich selbst mitbringen. Nordneukölln auf dem Weg zum zweiten Prenzlauer Berg. Die vielen Kleinkram- und Kruschtläden, die ganze Kleinkunst, Galerien, Bars, Cafés, dann das Sterben der Eckkneipen – das Kindl-Eck ist jetzt ein Kiosk, das endgültige Aus des Sanderstübl wird mit großzügig im Viertel verteilten Kondolenzschreiben öffentlich beweint – wehe dem, der keine Anzeichen sieht.

Gerade noch rechtzeitig

Ich selbst habe das Gefühl, den Zuzug noch gerade rechtzeitig erwischt zu haben. Ich finde es schön hier. Die meisten meiner Freunde und Freundinnen wohnen im Kiez. Es ist, sage ich abends bei der Rückkehr aus dem Bürkner-Eck, das ein guter Ersatz für den eh zu teuren und poschen Würgeengel ist, es ist wie damals auf dem Campingplatz. A. wohnt da hinten, während W. und A. hier ums Eck wohnen, J. wohnt auch hier, C. sowieso, und ohne H. lässt sich der Kiez ohnehin nicht denken. Habe ich überhaupt noch Freunde außerhalb Neuköllns?

Neben mir im Haus wohnt ein älterer Exilpalästinenser, der morgens zur gegenüberliegenden Shisha-Bar schlurft und abends wieder zurück. Über seiner Wohnungstür hängt eine grünweiße Schlingpflanze, darunter eine grüne Schleife mit Surenbeflockung, sein Deutsch ist ausbaufähig. Ein Aufkleber auf der Tür verkündet den Weltfrieden. Er selbst nimmt, ist er mal zuhause, gern die Pakete der Nachbarn an, wirkt dabei grummelig, bleibt aber freundlich. Schräg unter mir wohnt die Tochter der Familie aus dem Erdgeschoss. Multikulturelles, aber sehr ruhiges Wohnen. Trotzdem lässt der Schlaf oft noch auf sich warten. Die kleinen nächtlichen Geräusche müssen erst alle sukzessive als normal registriert und abgespeichert werden.

Meine Augen sind seit Wochen auf Einrichtungsgegenstände, Regale und Lampen fixiert; meine Ohren werden bei allen Gesprächen, die Umzüge und Wohnungen betreffen, spitz. An einem Mittwochmittag läuft mir eine telefonierende junge Frau über den Weg, die eine Art juristisches Problemgespräch mit ihrem Exfreund und Vater ihres Kindes führt. „So ist die Rechtslage; wir haben keine Beziehung mehr, Thomas“, sagt sie und geht wütend, bestimmt, entschlossen auf dem Gehsteig auf und ab. Am Ende kommen Anwälte.

Ich ziehe mich in die „Buchkönigin“ zurück, einem der neuen Buchläden, und verfolge das Spektakel gemeinsam mit den staunenden Buchhändlerinnen von dort aus weiter. Das erste Buch, das ich im neuen Viertel kaufe, ist „Bonjour Tristesse“. Es erzählt von der französischen Bohème der fünfziger Jahre, von einem Landhaus am Meer, von der Côte d‘Azur, es hat viel und nichts mit dem Leben der Boheme in Kreuzkölln zu tun.

Mit dem Buch in der Hand setze ich mich ins Café Ringo und schaue auf gestaltete Räume. Weil ich keine Ahnung habe, Innenarchitektur für mich nicht zuletzt auch finanziell permanente Überforderung bedeutet, schaue ich in jeder neuen Umgebung, auch in jeder Serienszene – ich habe mir zum Einzug die erste Staffel „Mad Men“ geliehen –, auf die Möblierung, die Ausstattung, die Beleuchtung.

Für 40 Euro kaufe ich beim Trödler um die Ecke einen Staubsauger und einen Badezimmerspiegel: „20 Euro???“ – „Der ist nix Neues!“ – „Eben!“ – „Sechziger Jahre, Mann!“ Zu denken, alte Dinge sind günstiger, weil sie alt sind, ist seltsamerweise ein Irrtum.

Aufgehängt, scheint der Spiegel nur für kleine Leute gemacht, bis mir die Vormieterin steckt, dass ich ihn auch höher anbringen könne. Das, was ich für einen Rauchmelder gehalten habe, ist nämlich nur eine Kabelschutzdose. Die Vormieterin hat fast alle Lampen abmontiert, inklusive der Fassungen, dabei muss die Ader kaputt gegangen sein, jedenfalls liegt die Leitung unter Dauerstrom, meint jedenfalls der Hausmeister.

Vorher hatte ich es selbst versucht, vergeblich, dann mit Ferndiagnose, man ist ja nicht umsonst Elektrikersohn. „Abisoliert“, sagte mein Vater. Und ob ich nicht jemanden hätte, der sich damit auskennt, so aus der Ferne ließe sich da wenig unternehmen, ich sagte: „Ich habe doch nur Akademikerfreunde.“ Er darauf: „Können die nicht irgendetwas?“

Nie wieder was Altes

Eines Nachts kommt der Spiegel runter. Ich hätte ihn besser befestigen sollen. Der schöne Plastikrahmen aus den Sechzigern! Das Licht im Flur funktioniert fast zwei Wochen nicht. Der türkische Elektriker, der auf Bestellung der Hausverwaltung kommt, hatte dann natürlich keine Probleme, innerhalb von zehn Minuten alles klar zu machen. Und es ward Licht.

Meine Analytikerin meinte dazu etwas von „Heimwerkhemmung“. Als kleine Schwester der „Schreibhemmung“.

Der Staubsauger ist auch scheiße. Seine Räder quietschen wie junge Mäuse, er selbst saugt trotz „1.400 Watt“ wie ein geplagter Asthmatiker und macht dabei einen Lärm wie zwei startende Flugzeuge oder drei Espressomaschinen. Ich kaufe nie wieder etwas Altes.

Aber ja, es fühlt sich erwachsen an, wieder allein zu wohnen. Wie im Leben ankommen. Und ich habe Platz. Und Ruhe. Und Ischiasbeschwerden, aber die haben mit dem Stress rund um Verantwortung, Arbeit und Beruf nur am Rande zu tun. Oder mit der Kaputtheit des Hermannplatzes, der ja jetzt meine Anlaufstelle für den ÖPNV ist. Ach, die Côte d’Azur!