Nicht den Hauch einer Chance

Frankreich Mit einem martialischen Großaufgebot der Polizei hat die Räumung des Flüchtlingslagers in Calais begonnen. Den Menschen blieb schlicht keine andere Wahl

Die Staatsmacht demonstrierte eindrucksvoll ihre fraglose Überlegenheit Foto: Pascal Rossignol/reuters

Von Tobias Müller

AMSTERDAM taz | Die französischen Behörden machen Ernst: Am Montagmorgen ist ein Großaufgebot von Polizisten in das inoffizielle Flüchtlingslager bei Calais vorgerückt, um mit der umstrittenen Teilräumung zu beginnen. Mehr als 50 Fahrzeuge der Anti-Aufruhr-Einheit CRS und eine Hundertschaft Beamte sind im Einsatz. Auch ein Wasserwerfer steht bereit, wurde bislang aber nicht eingesetzt.

Polizisten forderten die Bewohner des betreffenden Gebiets auf, in das neu errichtete Container-Zentrum am Rand des „Jungle“, so der Name des Camps, umzuziehen, andernfalls würden sie Gewalt anwenden. Unterstützern wurde der Zutritt zum Lager verweigert. Eine Person, die sich den Abbrucharbeiten widersetzte, wurde festgenommen.

Die Räumung betrifft zunächst etwa 20 der provisorischen Hütten auf einer Fläche von rund 100 Quadratmetern. Arbeiter in orangefarbenen Overalls begannen am Montag unter Polizeischutz damit, diese abzubauen. Bulldozer und Bagger werden bewusst zurückgehalten. Die Behörden wollen den Eindruck eines brutalen Vorgehens gegen die Flüchtlinge vermeiden.

In der offiziellen Begründung der Präfektur von Calais war in den letzten Tagen von einer „humanitären Räumung“ die Rede, deren Ziel der Umzug der Flüchtlinge in ein Containerzentrum sowie andere Auffanglager im Land sein soll. Der Prozess soll drei Wochen dauern.

Erwartet worden war die Räumung des südlichen Teils des „Jungle“ bereits letzten Dienstag. Doch das Ultimatum zum Verlassen der Behausungen verstrich zunächst ohne Folgen, weil Flüchtlinge und mehrere Hilfsorganisationen beim Verwaltungsgericht in Lille in Berufung gegangen waren. Im Gegensatz zur Präfektur, die höchstens 1.000 Menschen von der Räumung betroffen sieht, gehen die Hilfsorganisationen von rund 3.500 aus, darunter etwa 400 meist unbegleitete Minderjährige. Diese würden bei Temperaturen um den Gefrierpunkt nun ohne Unterschlupf dastehen.

Der „Jungle“ soll jetzt drastisch auf maximal 2.000 Bewohner reduziert werden

Nach einem Ortsbesuch von Richterin Valérie Quemener Mitte voriger Woche nahm das Gericht zwei Tage Bedenkzeit, bestätigte dann jedoch am Donnerstag die Pläne der Behörden. Ausgenommen werden sollen „soziale Orte“ wie eine Schule, Kirche und Moschee, ein Thea­ter und die Bibliothek. Zelte, selbst gezimmerte Holzhütten und Restaurants und Läden werden entfernt. Bereits im Januar war ein Streifen des Gebiets entlang der Autobahn geräumt und planiert worden. Die Flüchtlinge hatten in den letzten Monaten mehrfach versucht, dort den Verkehr zu blockieren und sich Zugang zu Lkws in Richtung Eurotunnel zu verschaffen.

Die Präfektur setzt nun ihre im Winter begonnene Strategie fort: Der „Jungle“ soll auf maximal 2.000 Bewohner reduziert werden, die man entweder in einem Frauen-und-Kinder-Zentrum am Rand des Areals oder in der neu errichteten Container-Siedlung unterbringen will. Die restlichen Bewohner sollen in Frankreich um Asyl bitten oder sich in Auffanglager in andere Regionen bringen lassen. Weil das Ziel der Menschen allerdings England ist, sind diese Optionen im „Jungle“ alles andere als populär.

Das Anwaltskollektiv Appel de Calais hat unmittelbar nach der Räumungsbestätigung beim Obersten Verwaltungsgericht in Paris erneut Berufung eingelegt. Aufschiebende Wirkung hat diese allerdings nicht. Die Organisation Stand Up to Racism rief unterdessen für Montagabend zu einem Protest vor dem Amtssitz des britischen Premiers auf.