Im Winter ist Hagenbecks Tierpark ein Ort intimer Begegnungen
: Der Kopfpicker

Foto: privat

AM RAND

Klaus Irler

Antizyklisches Verhalten heißt, dass man etwas dann tut, wenn die meisten anderen Menschen nicht auf die Idee kommen würden, dasselbe zu tun. Klingt einfach, ist es aber nicht. Ich habe überlegt, wie oft ich mich wirklich entgegen dem Mainstream verhalte. Zwei Dinge sind mir eingefallen. Erstens: Ich gehe an Silvester um 22 Uhr ins Bett. Zweitens: Ich gehe im Winter gerne in den Tierpark, also in Hagenbecks Tierpark, denn der hat das ganze Jahr über geöffnet.

Hagenbecks Tierpark ist im Winter ein Ort der Einkehr. Die Onager zum Beispiel stehen eng beieinander unter einer überdachten Futterstelle. Die Wildesel machen den Eindruck, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Der Bär liegt in einer Tonne und pennt. Die Flamingos stehen in einem Gewässer, das durch Pumpen davor bewahrt wird, einzufrieren. Der Strauß, das Zebra, die Giraffen und die Löwen ziehen sich zurück in ihre Ställe. Dort kann man sie besuchen.

Im Stall steht man den Tieren Aug’in Aug’gegenüber. Das ist zum Beispiel beim Rothalsstrauß gar nicht ohne: Der Strauß ist über zwei Meter groß, sodass er nicht nur den Menschen, sondern auch das Gitter seines Stalls überragt. Er könnte Dir auf den Kopf spucken, wenn er wollte. Er sieht auch so aus, als ob er will. Weshalb sich die Besucher instinktiv ducken.

Das Zebra gegenüber wirkt nervös. Das mag daran liegen, dass sich die Menschen in seine Richtung bewegen. Könnte ja sein, dass der Strauß doch spuckt. Oder pickt. Oder beides. Die Giraffen dagegen wirken leidenschaftslos, stinken aber erbärmlich. Bei ihnen hält es niemand lange aus. Harmlos ist ein Besuch bei den Löwen. Die schauen zwar grantig, aber das tun sie im Sommer auch. Ihr Stall ist so gebaut, dass ein gewisser Abstand gewahrt bleibt.

Was mich im Sommer immer wundert, ist, wie unbekümmert der Mensch mit dem Fressen umgeht, also dem eigenen Fressen. Da steht die Fischbrötchen-Bude vor den Kegelrobben, die Currywurst-Bude ist unweit der Hausschweine, der Grillplatz neben den Wild-Truthühnern. Den Tieren wird der Verzehr ihrer Genossen vor Augen geführt. Wenn also der Strauß mal runterpicken täte, man könnte es verstehen.

Er tut es aber nicht und das mag daran liegen, dass das Mensch-Tier-Verhältnis hier im Winter harmonischer erscheint als im Sommer. Im Winter sind neben den wenigen Besuchern viele Tierpfleger unterwegs: Auf Fahrrädern fahren sie durch den Park, bringen Futter oder schaufeln Mist. Hagenbeck im Winter hat etwas von einem Bauernhof wie im Bilderbuch, ohne Legebatterien und Schlachtbank.

Um die Schließung um 16.30 Uhr anzukündigen, fährt ein Pfleger mit dem Rad umher und schlägt eine Glocke. Wirklich antizyklisch wäre es, zu bleiben und zu hören, wie sich Pinselohrschwein und Pampashase „Gute Nacht“ sagen. Aber was nachts im Tierpark abgeht, das muss geheim bleiben.