Ganz naher Osten

Türkische Regierung eskaliert Konflikt mit Kurden in Ostanatolien und Syrien, Europa sorgt sich vor Brexit

Keine Zeit zu trauern

Türkei Die Armee bombardiert PKK-Stellungen, die Regierung ist sicher ist, dass Kurden hinter dem Anschlag von Ankara stecken – aber türkische und syrische Kurdenorganisationen dementieren jede Beteiligung

Ankara am Mittwochabend: Ein Polizist sperrt nach dem Attentat eine Straße Foto: epa/dpa

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Unmittelbar nach dem verheerenden Attentat in Ankara hat die türkische Luftwaffe angebliche Stellungen der kurdischen Guerilla PKK im Nordirak angegriffen. Dabei wurden nach türkischen Angaben über 70 kurdische Kämpfer getötet.

Nur wenige Stunden später explodierte in Lice, einer Kleinstadt im Norden von Diyarbakır, eine Mine am Straßenrand, während eine Militärpatrouille vorbeifuhr. Sechs Soldaten starben. Dass in Stockholm noch ein türkisches Kulturzentrum von mutmaßlich kurdischen Tätern mit einer Bombe attackiert wurde, passt ins Bild – auch wenn die Tat noch nicht aufgeklärt ist.

Das Attentat in Ankara, bei dem am Mittwochabend um 18.30 Uhr 28 Menschen getötet und mehr als 60 verletzt wurden, will die türkische Regierung dagegen bereits einen Tag danach vollständig aufgeklärt haben. „Der Tathergang ist klar, die Identität des Täters festgestellt, die Beweise sind sicher“, behaupteten am Donnerstagnachmittag unisono Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und Präsident Tayyip Erdoğan.

Demnach habe ein syrischer Kurde namens Salih Neccar das Auto gefahren, mit dem die beiden Busse mit den Militärangehörigen darin in die Luft gesprengt wurden. Während eines Halt an einer roten Ampel sei Neccar mit hohem Tempo mit seinem sprengstoffbeladenen Wagen in die Busse gefahren. In dem zerfetzten Fahrzeug wollen Ermittler später seine Fingerabdrücke gefunden haben.

Diese Fingerabdrücke sollen demnach vor zwei Jahren aufgenommen worden sein, als der mutmaßliche Attentäter sich als Flüchtling registrieren ließ. Außerdem, so Davutoğlu, wisse man, dass Neccar Mitglied einer kurdischen Miliz ist. Mit anderen Worten: Er sei von der syrisch-kurdischen YPG zu dem Attentat beauftragt worden. Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK in der Türkei habe Unterstützung geleistet.

Beide kurdischen Organisationen bestreiten diese Vorwürfe entschieden. Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP sagte Salih Muslim, der Vorsitzende der DYP – der syrisch-kurdischen Partei, deren bewaffneter Arm die YPG ist –, er kenne Neccar nicht und seine Partei habe mit dem Attentat in Ankara nichts zu tun. Schon zuvor hatte ein anderer DYP-Sprecher den Anschlag öffentlich verurteilt. Auch die PKK will mit dem Attentat nichts zu haben. Ihr Militärchef Cemal Bayık sagte gegenüber der der PKK nahestehenden Nachrichtenagentur Firat: „Wir haben mit dem Ankara-Attentat nichts zu tun.“

Doch das ist für die türkische Regierung irrelevant. Flankiert von Generalstabschef Hulusi Akar und Innenminister Efkan Âlâ, trat Erdoğan Donnerstagmittag vor die Presse und kündigte an, man werde die Beweise für die Urheberschaft der DYP-YPG umgehend an die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und alle anderen Staaten schicken, die sich bislang weigern, die YPG als Terrororganisation einzustufen.

Erdoğan erwähnte die USA nicht namentlich, aber seine Regierung und die US-Administration streiten seit Wochen über die YPG. Während die USA die YPG als bewährte Bodentruppe gegen den sogenannten islamischen Staat (IS) unterstützt, sieht Ankara in ihr nichts anderes als ein PKK-Subunternehmen, das genauso bekämpft werden muss wie diese.

Das Attentat schockiert weniger wegen der vielen Toten als vielmehr durch den Ort. „Mitten ins Herz des Staates“, titelte die regierungskritische Cumhuriyet gestern und traf damit das Gefühl vieler Bürger. Der Attentatsort liegt im sensibelsten Bereich Ankaras, nur wenige 100 Meter entfernt vom Hauptquartier der Streitkräfte, dem Parlament und diversen Ministerien.

Bereits im Oktober letzten Jahres war am Bahnhof von Ankara ein Anschlag mit 103 Toten durchgeführt worden, bei dem allerdings regierungskritische Friedensdemonstranten Opfer waren. Verantwortlich dafür war angeblich der IS, genauso wie bei einem Attentat im Januar in Istanbul, bei dem vor der Hagia Sophia elf deutsche Touristen starben.

Vorausgegangen waren dem aktuellen Attentat türkische Angriffe auf YPG-Kämpfer

Vorausgegangen waren dem aktuellen Attentat türkische Luft- und Artillerieangriffe auf YPG-Kämpfer. Diese nutzen den Großangriff von russischer Luftwaffe und Assad-Truppen auf Aleppo, um nördlich der Stadt entlang der türkischen Grenze Geländegewinne gegen von der Türkei unterstützte sunnitisch-islamistische Anti-Assad-Kämpfer zu erringen.

Ziel der Kurden ist, im Windschatten der Kämpfe um Aleppo, ihren im Westen liegenden Kanton Afrin mit dem östlichen Kanton Kobani zu verbinden. Damit würden sie den größten Teil der fast 900 Kilometer langen Grenze Syriens zur Türkei kontrollieren. Das will die türkische Regierung mit allen Mitteln verhindern. Deshalb bringen Regierungsmitglieder auch immer wieder den Einsatz von Bodentruppen ins Gespräch – den die USA ablehnen.

Gleichzeitig führen Spezialtruppen von Gendarmerie und der Polizei seit Anfang Dezember vergangenen Jahres einen schmutzigen Krieg gegen kurdische Militante im Südosten des Landes. In Cizre, Nusaybin, Silopi und in Sur, der Altstadt von Diyarbakır, haben Angehörige der PKK-Jugendorganisation YPG-H seit vergangenem Oktober immer wieder autonome Zonen ausgerufen, die sie mit Waffengewalt verteidigen.

Die Sicherheitskräfte gehen bei ihren „Säuberungsaktionen“ mit bislang nicht gekannter Brutalität vor. Es gibt Hunderte Tote, nicht nur unter den Kombattanten, sondern auch unter der Zivilbevölkerung. Im kürzlich für „gesäubert“ erklärte Cizre etwa gleichen die umkämpften Stadtteile dem zerstörten und zerbombten Aleppo.

Für die türkische Regierung sind die Aufstände im kurdischen Teil des Landes eine Konsequenz des erfolgreichen Kampfes der syrischen Kurden, weswegen sie diese unbedingt zurückdrängen will. Für die legale prokurdische Partei HDP im türkischen Parlament sind die Kämpfe dagegen die Konsequenz daraus, dass die Regierung Mitte letzten Jahres den Friedensprozess mit der PKK beendete und wieder zu den Waffen griff. Seitdem, so der Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaș, versinke das Land in Chaos und Gewalt.