ausgehen und rumstehen
: Schlafen bei Mutter, Ohnmacht bei Cronenberg

Oft weiß diese Kolumne ja selber nicht, was ihr an diesem oder jenem Wochenende geschieht. Auf diesen kleinen Nervenkitzel freut sie sich wahrscheinlich jedes Mal besonders. Mit Begriffen wie dem der Gemütlichkeit hantiert sie allerdings nicht so gern, ergibt der Vorstellungsmix aus „Gemütlichkeit“ und „Ausgehen“ doch einen eher ungesunden Cocktail an Bildern im Kopf. Am Donnerstagabend ist es dann trotzdem passiert. Ein Konzert von Mutter, der „härtesten Band Deutschlands“, soll stattfinden, in einem Kino ganz weit im Westen dieser Stadt. Also rein ins Auto, Neonreklamen gucken auf der Kantstraße und schnell noch zu „Tina und Toni“, einem von außen unheimlich authentisch aussehenden Italiener, der sich innen allerdings als Geisterbahn in Western-Optik entpuppt.

Anschließend nehmen Kino und bequeme Polstersitze unsere käseschweren Körper auf und servieren zum Nachtisch mal wieder eine Musik-Doku. Diesmal geht's um Mutter, die Band, die gleich noch spielen soll, und deshalb im weitesten Sinne um Rock und nicht Punk. Trotzdem spielt der Hamburger Labelmacher Alfred Hilsberg mit, der das Geld für sein Musik-Imperium inzwischen mit Nebenrollen in Dokumentarfilmen zu verdienen scheint. Schön, dass noch ein großer Experte was sagen darf: Diedrich Diederichsen tritt auf, redet vom „Subjektiven“ und vom „Objektiven“ und liefert mit einigen hingeworfenen Abstraktionen eine ganz und gar schlüssige Beschreibung der struppigen Band Mutter. Leider hört keiner zu, weil alle lachen, seit sich der Kopf des Poptheoretikers ins Bild geschoben hat. Warum? Ist es immer noch der lustige Name? Oder ein Reflex, geboren aus Hilflosigkeit und dem Gefühl der geistigen Überforderung? Jedenfalls: selber schuld. Beim tollen, viel zu kurzen Auftritt von Mutter verstummt das Publikum dann fast vollständig, vielleicht ist es auch vor lauter Sesselwärme und Gemütlichkeit schon eingeschlafen.

Ähnlich warm und polsterig fühlt es sich auch am Samstag an: im „Pussy + Knöpfchen“ in der Brunnenstraße drängeln sich Eltern mit ihren nach Berlin gezogenen Kindern gemeinsam mit Stammgästen und Touristen um die auf dem Herd vor sich hin köchelnde Deluxe-Hausmannskost zu fairen Preisen. Eingelullt von Wein- oder Traubensaftschorle und der Musik eines Jungen, der seinen Moog-Synthesizer mit einer Mundorgel bedient, ziehen später wenige Eingeweihte hier ihre Bahnen, auf einer unebenen Tanzfläche tief unter dem Meeresspiegel von Berlin-Mitte.

Weil sich dieses Wochenende unfreiwillig zum Gemütlichkeitsprogramm, aber dennoch ganz ausgezeichnet entwickelt hat, will ich unbedingt noch mal das Kinogefühl haben. „Auf in den neuen Cronenberg-Film“, sage ich zur Verabredung am Sonntag. „Nein danke“, sagt mein Gegenüber. Mit Cronenberg-Filmen habe er schlechte Erfahrungen gemacht. Aus „Crash“ sei er aufgrund einer Ohnmacht mit gebrochenem Schlüsselbein hervorgegangen, bestaunt von vielen über ihm knienden Kinobesuchern. Okay, da will man dann auch nicht länger stören.

Als gefahrlose Alternative böte sich zum Beispiel eine Unterhaltung im herrlich braun beleuchteten Kakaocafé am Helmholtzplatz an, über Ohnmachten, Disco-Unfälle und was beim Ausgehen alles noch passieren kann. Und tatsächlich, der Plan funktioniert: Auf dem Heimweg habe ich so viele Geschichten in der Tasche wie Knoten im Taschentuch und könnte diesen Platz hier ein Jahr lang füllen, ohne jemals wieder einen Fuß vor die Tür zu setzen. Wie langweilig – ähm, wie geil wäre das denn?

LORRAINE HEIST