Befindlichkeitskreiseleien

„Ich bin kein Mäuschen“, haucht eine Frau mit blonder Perücke. Später wird sie neben ihre Plateau-Stiefel kotzen. Solche Pointen kommen in den Sophiensælen beim „Freischwimmer“-Festival mit Arbeiten junger Regisseure leider viel zu häufig vor

Abendfüllend erzählt er von seinem Sodbrennen beim Müsli-Verzehr

von CHRISTINE WAHL

In Dariusch Yazdkhastis Performance „Exil“ besteht ein nicht unwesentlicher Handlungsstrang darin, dass das Handy der Hauptdarstellerin klingelt. Sie presst es zwischen ihre Blondhaarperücke, macht ein konsterniertes Gesicht und spricht nach einer Weile hinein: „Was soll das heißen – du verlässt mich? Wir sind doch gar nicht zusammen!“ Irgendwann legt der Gesprächsteilnehmer, bei dem es sich wohl um eine Freundin der Blondhaarperücke handelt, am anderen Ende auf; und ein wortkarger Nebendarsteller, der auf den Namen „Beutel“ hört und der sich bisher eher im Hintergrund gehalten hat, könnte jetzt gerne mal wieder an die Rampe schlurfen und E-Gitarre spielen.

„Exil“ ist der zweite von sechs Beiträgen des Nachwuchs-Festivals „Freischwimmer“. Vier renommierte freie Theater – die Sophiensæle Berlin, Kampnagel Hamburg, das Forum Freies Theater Düsseldorf und das Theaterhaus Gessnerallee Zürich – haben dafür junge Regisseure bzw. Gruppen ausgewählt und mit einem Produktionsauftrag nebst Budget ausgestattet. Um den ersten Jungregie-Trend gleich vorwegzunehmen: Diese Art von frei schwebenden und einander ermüdend ähnelnden Pointen, wie sie Yazdkhastis auswälzt, ist so en vogue, dass einen spätestens am zweiten Abend der Verdacht beschleicht, der Großteil des künstlerischen Nachwuchses hätte einen gemeinsamen Ghostwriter unter Vertrag.

Dabei haben die produzierenden Häuser, durch die „Freischwimmer“ nach dem Berliner Auftakt noch bis Mitte Mai touren wird, alle kreativitätsbeschränkenden Vorgaben vermieden. Lediglich drei Bedingungen wurden gestellt: Der Beitrag durfte nicht länger als 60 Minuten sein; er musste im Einheitsraumkonzept – einer Lichtinstallation von Ulrich Schneider – realisiert werden; und er sollte ein Thema von „politischer oder gesellschaftlicher Brisanz“ verhandeln. Doch die Zwischenbilanz ist wenig ermutigend. Der führende Jungregisseur von heute scheint offenbar in der glücklichen Lage zu sein, gar nicht erst seine WG verlassen zu müssen. Über die Befindlichkeitskreiseleien, in denen sich Menschen um die dreißig gern abendfüllend an ihren Küchentischen verfangen, ging bislang nur ein einziger Beitrag hinaus. Auf Simone Eisenrings und Milo Raus ironischem Theater-Parcours „Bei Anruf Avantgarde!“ exekutieren zwei Schauspieler als „Promi-Paar“ Bertolt Brecht und Helene Weigel, was die Dialektik von Individuum, Kunst und Gesellschaft hergibt. Nebenher werden gleich noch sämtliche Bühnengattungen vom Lehrstück im Allgemeinen und Bertolt Brechts „Maßnahme“ im Besonderen bis zur ebenso hohlen wie politisch aufgeblähten Motorrad-Performance abgehandelt – damit auch die eigene Theaterarbeit mitsamt ihren Originalitätszwängen und politischen Diskurs-Ansprüchen nicht zu kurz kommt.

Dass man sich die Frage, ob das im Einzelnen eigentlich geglückt ist, gar nicht gestellt hat, merkt man erst ein paar Tage später. Kaum saß man in der nächsten Performance des Abends, Kerstin Lenharts „Bier für Frauen“, sehnte man sich einfach nur völlig unreflektiert nach „Bert“, „Heli“ sowie dem von ihnen verschlissenen Tierarzt und „mutierten Mongo“ zurück. Nicht, dass sich einem die Funktion von Tierarzt und Mongo etwa befriedigend erschlossen hätte. Man war nur einfach froh, dass überhaupt mal jemand auf den Gedanken gekommen ist, sich an anderem Personal abzuarbeiten als den eigenen Mitbewohnern, Ex-Kommilitonen oder sich selbst.

Für die Frauenbier-Performance haben angeblich real existierende Trinkerinnen die Textbasis abgegeben. Nun sieht man zwei junge Darstellerinnen sowie einen männlichen Kollegen in der Rolle des Quoten-Homos, die sich in Sportklamotten und mit Utensilien aus der rhythmischen Sportgymnastik durch die gesellschaftliche Brisanz turnen. Eine erzählt, wie sie beim Blow Job an einem abgeschleppten Kellner „auf einmal kotzen“ musste, tatsächlich „voll auf ihn drauf gekotzt“ hat, „der Typ dann auch kotzen“ musste und also sage und schreibe „voll aufs Kissen gekotzt“ hat.

Einfach nur völlig unreflektiert sehnt man sich nach „Bert“ und „Heli“ zurück

Die Kotz-Orgie weist die Turnerinnen als echte Wahlverwandte jener Frau in Blond aus, die man am Vorabend im besagten „Exil“ kennen gelernt hatte. Die nämlich war betont x-beinig unter ihrem Ledermini ans Mikro getreten, hatte im französischen Akzent „Ich bin kein Mäuschen“ hineingehaucht, in den anschließenden sechzig Minuten das Gegenteil bewiesen und schließlich ebenfalls neben ihre Plateau-Stiefel gekotzt. Allerdings nicht infolge, sondern eher in Ermangelung spontaner Sexualkontakte. Denn der Typ, mit dem sie jetzt eigentlich hätte schlafen können, erzählte ihr leider nur abendfüllend von seinem Sodbrennen beim Müsli-Verzehr. Gut möglich, dass wir wesentliche Ursachen des bulimischen Anfalls verpasst haben, weil wir sehr damit beschäftigt waren darüber nachzudenken, vor wie vielen Jahren zuletzt ein Regisseur auf einen Lacher mit Sodbrennen beim Müsli-Essen gesetzt hatte – und ob man nicht inzwischen davon ausgehen muss, dass ein Dreißigjähriger sich schon deshalb kein Sodbrand-Zipperlein leistet, weil er im Zweifelsfall keine Krankenversicherung hat.

Doch, doch – die zunehmenden Schwierigkeiten mit der Existenzsicherung kommen schon auch vor. „Er arbeitet zwar als Kellner, aber er trägt auch noch Särge zum Geldverdienen“, erfährt man beispielsweise über den Gespielen einer der turnenden Biertrinkerinnen. Und Regisseur Martin Clausen, der in seinem Beitrag „Kann man können wollen“ immerhin noch am originellsten um sich selber kreist, erntet sogar Szenenapplaus mit seiner Erkenntnis: „Du musst, wenn du irgendwo was machen willst, da bedeutend eher anrufen, als es stattfindet.“

Aber dort, wo die Auseinandersetzung eigentlich anfängt, wo es interessant und entsprechend schwierig wird und wo man unter Umständen auch mal hätte recherchieren müssen, dort hört es dann eben konsequent auf. Wer hier lebensmüde aus dem 6. Stock springen will, kriegt einfach „das verfickte Fenster nicht auf“ und muss die anderen halt weiter mit seinen mageren Pointen traktieren.

Nächste Vorstellungen: Di. bis Sa., 19.30 Uhr, Sophiensæle, Sophienstraße 18