Vorsicht, Missbrauchsfalle!

Die steigenden Kosten der Hartz-IV-Reform bringen immer mehr Betroffene in den Verdacht, Sozialleistungen zu kassieren, die ihnen nicht zustehen. Aber Mitnahme ist nicht gleich Missbrauch

von RICHARD ROTHER

„Ich wusste gar nicht, dass es diesen Zuschlag gibt“, sagt Heidrun Mönig (Name geändert). Mehr als 100 Euro im Monat mache dieser so genannte Alleinerziehendenzuschlag aus, sagt die allein erziehende Mutter einer sechs Monate alten Tochter. Erst nach einer gezielten Nachfrage habe ihr die Sachbearbeiterin vom Job-Center den Zuschlag zum Arbeitslosengeld II gewährt. Liegt hier ein Fall von Hartz-IV-Missbrauch vor?

Natürlich nicht, denn hier handelt es sich nur um Verfehlungen der Hartz-IV-Ämter, über die viele Arbeitslose klagen (siehe Interview unten). Missbrauch ist – so sehen es jedenfalls Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (SPD), Boulevardblätter und Magazine – wenn sich Betroffene Leistungen nach den neuen Hartz-IV-Regelungen erschleichen. Immerhin 16 Seiten Antrag muss ein Betroffener ausfüllen – und in jeder Zeile, die unkorrekt ausgefüllt werden könnte – steckt die Gefahr, vom Job-Center als Sozialleistungsbetrüger erkannt zu werden. Zudem ist das, was Clement und andere moralisch als Missbrauch definieren, keiner im juristischen Sinne.

Ein Beispiel: Wenn ein arbeitsloser 19-jähriger Jugendlicher zu Hause auszieht, hat er Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Auch die Wohnkosten werden vom Staat übernommen, ein Großteil davon trägt die Kommune. Für manch einen Hartz-IV-Befürworter, der steigende Kosten durch die umstrittene Arbeitsmarktreform kritisiert, sicher ein Fall von Missbrauch.

Aber klar ist der nicht. „Selbst wenn Sie das überprüfen, steht Aussage gegen Aussage“, räumt Olaf Möller, Sprecher der regionalen Arbeitsagentur ein. Niemand könne beweisen, ob der Jugendliche nur wegen des Geldes ausgezogen sei oder sich tatsächlich mit seinen Eltern zerstritten habe. Missbrauch sei, wenn jemand rechtswidrig Leistungen in Anspruch nehme, so Möller.

Wie viele das genau seien, darüber gebe es in Berlin keine Statistik. Zudem unterscheidet Möller zwischen illegalem Missbrauch und legaler Mitnahme. Letzteres gebe es, so lange es sozialstaatliche Leistungen gibt. Und nicht nur hier: Mitnahmen bei Steuern oder Unternehmenssubventionen sind ebenfalls gang und gäbe.

Bei Arbeitslosen liegt der Missbrauchsverdacht offenbar schnell nahe – obwohl die Zahl der Arbeitslosen und damit die steigenden Kosten der Erwerbslosigkeit in erster Linie mit der schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben. Uneinheitlich ist in Berlin noch, wie die zwölf Job-Center vermutete Missbrauchsfälle überprüfen. Manche haben eigene Ermittlungsgruppen gebildet; in Reinickendorf etwa beginnt nach Angaben der zuständigen Arbeitsagentursprecherin Ellen Queisser am 1. November eine dreiköpfige Prüftruppe mit der Arbeit. Andere Job-Center beauftragen die Sozialdetektive der Bezirksämter mit der Überprüfung verdächtiger Arbeitsloser. Das sind die Leute, die früher schon bei Sozialhilfe-Empfängern Überprüfungen durchgeführt haben – und etwa feststellten, dass eine kaputte Waschmaschine noch nicht so defekt war, dass dem Betroffenen eine neue zustand.

Für Heidrun Mönig – eine geborene Mecklenburgerin und Sozialarbeiterin im „Babyjahr“, wie sie sagt – liegt die Sache mit dem Missbrauch ohnehin anders. Ihre Mutter habe zu DDR-Zeiten für die Betreuung eines Neugeborenen immerhin ein Jahr lang 100 Prozent ihres letzten Gehalts erhalten. „Die musste nicht zum Sozial- oder Arbeitsamt betteln gehen – und sich dem Missbrauchsverdacht aussetzen.“