ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Freund von allem, was lebt

Friede den Heuschrecken, sie können halt nicht aus ihrer Haut

Der Horror, in dem wir täglich baden, bleibt uns auch nachts als Schrecken auf den Fersen. So ist das eben. Längst habe ich meinen Frieden damit gemacht, abends schluchzend einzuschlafen und morgens von meinen eigenen Schreien geweckt zu werden. Entsprechend blümerant war mir zumute, als sich neulich ausnahmsweise mal keine kinderfressenden Zugvögel oder halbverweste Schlachtabfälle aus den Nachrichten in meine Träume geschlichen hatten – sondern die plappernde Katze und der „wunderbar fliegende Marmeladenbaum“ aus einer putzigen niederländischen Zeichentrickserie von 1979.

Seitdem ist es, als habe die Firma Jamba direkt in meinem Kopf eine nervtötende Klingeltonwerbung für die Titelmelodie geschaltet: „Doktor Snuggles, Freund von allem, was lebt“, immer wieder: Freund von allem, was lebt! Herrgott, da kann man echt gaga werden von – und am Ende der Gehirnwäsche wirklich glauben, mit allem befreundet zu sein, was irgendwie lebt. Sogar mit Heuschrecken.

Was immer nur alle gegen diese Tierchen haben? Mir ein Rätsel. Bei Besuchen auf der Finca meiner spanischen Schwester versüßte mir das Zirpen der Heuschrecken so sehr die schwülen Sommernächte, dass ich sie seitdem nicht mehr missen möchte. Am liebsten trüge ich ständig eine bei mir, in einer Streichholzschachtel vielleicht. Obschon ich mich damit kaum ins Büro von Heuschreckenverächter Franz Müntefering und keinesfalls in das Verlagsgebäude der Berliner Zeitung wagen würde. Denn dort führte die Furcht vor einem raffgierigen Investor namens David Montgomery zur absurden Übersprungshandlung, allen Heuschrecken per Piktogramm Hausverbot zu erteilen. Weil dieser Montgomery mit seinem Schwarm ausländischer Investoren demnächst die fruchtbaren Seiten kahlfressen könnte und sowieso „keinen Ruf mehr zu verlieren“ habe.

Genau wie die gemeine Heuschrecke, die sich aber, begegnet man ihr alleine auf weiter Flur, als denkbar liebenswerter Kamerad entpuppt. Erst wenn ihre Population eine kritische Masse erreicht hat, macht purer Stress aus vielen vereinzelten Heuschrecken ein unberechenbares Geschwader gefräßiger Wanderheuschrecken. Diese Schwärme umfassen in der Regel bis zu 100 Millionen Tiere, einmal sollen über dem Roten Meer sogar 250 Milliarden gezählt worden sein, von wem auch immer. Es ist also ihr Auftreten in rauen Mengen, dass die Heuschrecke so unbeliebt macht – wie auch wir Deutsche in Europa wesentlich beliebter wären, träten wir nicht in der rauen Menge von 80 Millionen Exemplaren auf.

Was mit einzelnen Exemplaren passiert, wenn Heuschreckenhasser sie in die Finger bekommen, das haben Claire Rind und P. J. Simmons von der Universität Newcastle demonstriert. Die Forscher stellten Unsagbares mit ihr an, nämlich eine „Studie zur Hirnaktivität einer Heuschrecke beim Betrachten von Auszügen des Kinofilms ‚Star Wars‘“. Das Ergebnis verblüffte die Fachleute: Die Heuschrecke reagierte nicht auf jeden x-beliebigen heranrasenden T-Fighter, sondern nur auf Raumschiffe, mit denen eine Kollision droht. Überhaupt verhalte sich das vereinzelte Insekt wesentlich umsichtiger und vernünftiger als ein ganzer Schwarm.

Wie dumm diese Masse ist, wurde mir an einem denkwürdigen Nachmittag im Oktober des Jahres 1993 klar. Ich döste bei Caipirinha und 40 Grad im Schatten auf dem Dach eines Restaurants in der indischen Stadt Pushkar, als plötzlich ein Aufruhr sich erhob unter den Gästen: Vor der flirrenden Wüstenlandschaft ringsum zeichnete sich deutlich eine gewaltige Schneewolke ab, fern und weiß. Es war, wie mir der indische Kellner kichernd erklärte, wohl der letzte Rest eines Heuschreckenschwarms, der zuvor halb Pakistan leergefressen hatte. Nun wurden die letzten Überlebenden einfach vom Wind an uns vorbeigeblasen, hinein in die Große Thar. Und die Wüste Thar ist kein Freund von allem, was lebt.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Fragen an Dr. Snuggles? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN