Vermessung der Ränder

Italien Die Filme Cecilia Manginis sind Studien der Wirklichkeit der 1960er Jahre. Das Arsenal zeigt eine Werkschau

„Ignoti alla città“ (1959) dokumentiert das Leben am Stadtrand von Rom Foto: Fondazione Archivio Audiovisivo del Movimento Operaio e Democratico

von Fabian Tietke

Stadt und Land, boomende Konsumwelten des Wirtschaftswunders und aussterbende archaische Rituale, jugendliche Bewohner der Vorstädte Roms und eine alte Bäuerin im Süden Italiens – die Filme Cecilia Manginis vermessen die italienische Wirklichkeit der frühen 1960er Jahre von scheinbar entgegengesetzten Polen aus. Scheinbar, weil sich diese Welten immer wieder berühren: in „Essere donne“ (Frausein) von 1965, vergleicht Cecilia Mangini die Tochter einer Fabrikarbeiterin mit der Mutter der Arbeiterin, die weder lesen noch schreiben kann. Weil die Mutter arbeitet, kann die Tochter nicht regelmäßig zur Schule gehen. Mit 11 Jahren geht sie noch immer in die zweite Klasse. „In drei Generationen haben sie es vom Analphabetismus in die zweite Klasse geschafft.“ „Essere donne“ ist reich an Momenten wie diesen, die den Fortschrittsglauben der 1960er Jahre tief erschütterten. Der Film ist eine Studie über die doppelte Ausbeutung von Frauen als Bäuerin oder Arbeiterin und als Frau, entstanden einige Jahre bevor Frauen, bevor der Feminismus den Film eroberten. Eine Filmreihe im Arsenal präsentiert „Essere donne“ nun im Rahmen einer Auswahl aus dem Werk Cecilia Manginis erstmals seit langer Zeit in Deutschland.

Ihren ersten Film drehte Cecilia Mangini 1959, zu einer Zeit, als es nicht nur in Italien unüblich war, dass Frauen Filme drehten, noch dazu politische Filme. „Ignoti alla città“ (Die Unbekannten der Städte) entfaltet zu einem Kommentartext von Pier Paolo Pasolini die Welt der Halbstarken in den Vororten Roms. Im Zentrum des Films steht das Leben in beengten Wohnräumen, das Wühlen in Müllbergen der Großstadt, die Arbeit als Hilfsarbeiter bei Lebensmittelhändlern, beim Verlegen von Pflastersteinen. Arbeiten, die nur dazu dienen, etwas Geld zu machen, um an der Jugendkultur teilzuhaben, Comics zu kaufen, ein schickes T-Shirt, ein paar Groschen für die Jukebox zu haben. Nach „Ignoti alla città“ konnte Cecilia Mangini bis Mitte der 1960er Jahre in schneller Folge eine ganze Reihe kurzer Dokumentarfilme realisieren.

„Ignoti alla città“ entfaltet die Welt der Halbstarken in den Vorstädten Roms

Ein Film ragt heraus: Im Frühjahr 1960, nur 15 Jahre nach Kriegsende, bildete der Christdemokrat Tambroni eine konservative Minderheitsregierung, die sich vom faschistischen Movimento Sociale Italiana (MSI) unterstützen ließ. Proteste gingen durch das ganze Land, in deren Verlauf es mehrere Tote gab, unter anderem in Reggio Emilia. Cecilia Mangini reagierte, indem sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Filmemacher Lino Del Fra, und dem Filmkritiker Lino Micciché einen Film über den italienischen Faschismus drehte. In „All’armi siam fascisti“ (Zu den Waffen, wir sind Faschisten – der Film greift im Titel das italienische Gegenstück zum Horst-Wessel-Lied auf), montieren Mangini, Del Fra und Micciché Archivmaterial vom Aufstieg und der Herrschaft des italienischen Faschismus zu einer der ersten filmischen Überblicksdarstellungen. „All’armi siam fascisti“ ist kein Film für den Geschichtsunterricht, sondern schlägt den Bogen vom Hofieren des Faschismus durch große Teile der bürgerlichen Eliten bis zu den Toten von Reggio Emilia. Die italienische Regierung hatte alles getan, um den Film zu verhindern. Als sie den Filmemachern das wichtigste Archiv, das der Wochenschauproduktion „Istituto Luce“, verwehrte, schwärmten sie aus in die Archive Europas.

In den 1970er Jahren machten Cecilia Mangini und ihr Mann einen längeren Ausflug in die Welt des fiktionalen Films, bevor sie 1981 gemeinsam ein letztes größeres Dokumentarfilmprojekt realisierten: In „Comizi d’amore ’80“ aktualisierten sie das Konzept von Pier Paolo Pasolinis „Comizi d’amore“ von 1962 und befragten landauf, landab Italienerinnen und Italiener zu Sexualität. Intimität und politische Intervention halten sich die Balance im filmischen Werk von Cecilia Mangini.

Lyrisch, aufmerksam, kämpferisch – 
Die Filme Cecilia Manginis: Arsenal, 4.–7. 2., am 4. und 5. 2. in Anwesenheit Cecilia Manginis