Bert Schulz klickt sich durchs Berlinale-Programm
: Die Cineasten-Bibel ist erschienen

Meryl Streep freut sich riesig Foto: reuters

Und dann ist es einfach da. Irgendwann, zwischen halb zwölf und zwölf Uhr am Dienstag zeigte die Berlinale-Webseite nicht mehr die Ankündigung, dass „ab Dienstagnachmittag an dieser Stelle“ das Programm des Filmfestivals zu lesen sein wird. Sondern das Programm selbst. Auch die gedruckte Fassung wird seit Ende der traditionellen Programmpressekonferenz am Dienstag verteilt. Damit beginnen – mehr als eine Woche vor dem Start der Berlinale – für die Cineasten die Festspiele. Das heißt: Ab jetzt kann geplant werden und gefachsimpelt, welchem Regisseur Jury-Präsidentin Meryl Streep (Foto) am Ende den Goldenen Bären überreichen wird.

Das Programm mit seinen inzwischen kaum mehr zu überblickenden Reihen, Nebenreihen und Sonderveranstaltungen ist für Filmfans tatsächlich so etwas wie die Bibel für diese zehn Tage im Februar: Das Heft und die Webseite bieten ihnen eine grobe Orientierung durch das Dickicht der genau 434 Filme, die an fast 40 Spielorten gezeigt werden; gleichzeitig muss, wer für das große Programm jenseits des Wettbewerbs gewappnet sein will, ein Meister der Auslegung sein.

Denn die meisten Filme sind Premieren in irgendeiner Form (deutsche, europäische, Weltpremiere). Deswegen haben nur sehr wenige Menschen sie vor Beginn der Berlinale gesehen und konnten darüber schreiben, posten oder sprechen. Und die offiziellen Begleittexte der Filme im Programmheft sind eher positiv formuliert. Nur bei sehr genauer Betrachtung erschließen sich die Hinweise, dass ein Film auch ziemlich zäh, dröge und langweilig anzuschauen sein könnte.

Vorsicht ist etwa bei Sätzen wie diesem geboten: „Dieser Film ist eine assoziative Expedition in selbst erbaute, fiktive und vergangene Welten, in der die Bewusstseinsströme gleichberechtigt ineinanderfließen.“ Wörter wie „assoziativ“, „Expedition“ und „Bewusstseinsströme“ weisen oft darauf hin, dass mit eher unkonventionellen filmischen Mitteln – wirren Bildfolgen, harten Schnitten, absichtlich mieser Qualität, Unschärfen – versucht wird, mehr anzudeuten als zu zeigen, was nicht unbedingt cineastischen Genuss verspricht. Aber natürlich auch nicht ausschließt, dass die ungarische Produktion „Liliom Ösvény“ in der Reihe Forum, aus deren Beschreibung obiges Zitat stammt, für den einen oder anderen Zuschauer nicht weniger als der wichtigste Film der Filmfestspiele 2016 sein wird – und alles andere nur sinnentleertes Mainstreamkino.

Gleiches gilt für den russischen Film „Elixir“, ebenfalls im Forum. „Dieser Film könnte gestern, heute oder morgen spielen, seine Figuren scheinen aus der Zeit gefallen zu sein. Es sind Urbilder russischer Mythologien und Geschichten, die die verschiedenen Pole ihrer Heimat verkörpern“, heißt es im Programmheft. Ein ziemlich eindeutiger Hinweis auf schwer zu verstehende Symbolik.

Aufgepasst auch bei Filmen, die aus Ländern mit einer großen Tradition des Nichtssagens, sprich: Schweigens (zum Beispiel Frankreich) kommen oder die sogar schon ganz offen den Hinweis enthalten: „Kein Dialog“. Solche Werke sollte man sich zumindest früh am Tag anschauen, um den Kampf gegen den eigentlich sehr gesunden Kinoschlaf mit einigem Engagement angehen zu können.

Doch die Grenzen zwischen filmisch Aufregendem und Unsäglichem werden jedes Jahr von jedem Berlinalegänger aufs Neue gezogen. Das macht ja auch den Reiz des Festivals aus. Deswegen gilt, wie auch in jeder guten Religion: Nicht so viel im Heiligen Buch lesen, sondern schlicht dem Kult frönen – und einfach so in Filme gehen, auch wenn man nichts oder nur wenig über sie weiß. Das sind oft die schönsten.