GRIECHISCHES TRAGÖDIEN-BEST-OF MIT BUNDESKANZLERIN
: Lauwarme Verzweiflung

VON FATMA AYDEMIR

Wie ein misstrauischer Gang durchs Minenfeld gestaltete sich mein Weg vom Schlesischen Tor zum Deutschen Theater am Abend vor Silvester, zumindest gedanklich. Als Neuberlinerin bin ich von allen Kollegen und Verwandten bereits ausdrücklich vor der hiesigen Lust am Bombardement gewarnt worden: „Entweder du ballerst zurück oder du bleibst zu Hause!“ Ich fand eine Alternative: Ich ging unbewaffnet, hielt aber einen Sicherheitsabstand von 500 Metern zu allem, was sich bewegte und hätte knallen können.

Das Ziel war die Aufführung von „Ödipus Stadt“. Angekommen in der warmen Lobby aus rotem Samt und dem Geflüster des deutschen Bildungsbürgertums, wähnte ich mich schließlich in Sicherheit. Obwohl das Stück schon seit September läuft, war es ausverkauft, weil griechische Tragödien auch noch heute lehrreich sein können oder gerade jetzt zurzeit. Das Besondere an „Ödipus Stadt“ ist, dass darin die Stücke der drei größten Tragödiendichter – Sophokles, Euripides und Aischylos – zu einer Art Medley zusammengeschmissen wurden.

Ich war vor allem deshalb da, weil ich mir mal das Deutsche Theater anschauen wollte. Nachdem ich im Sommer das Nachtleben der Stadt erkundet habe, sind nun im Winter die Museen und Theater an der Reihe. Na ja, wie soll ich das Haus schon finden, weder öde noch wirklich aufregend, eher ziemlich berechenbar. Der Zuschauerraum ist überraschend klein gehalten, dafür gibt es genügend Ränge, wodurch eigentlich alle gute Sicht haben, selbst die in der letzten Reihe.

Im Freizeitmodus

Gerade gingen die Lichter aus und eine Kinderstimme wollte uns in die Begebenheiten Thebens einweihen, da flüsterte meine Begleitung: „Schau mal, die Bundeskanzlerin.“ Ich verstand nicht und wandte mich im Halbdunkel nach links. Plötzlich erkannte ich vier Plätze von mir Angela Merkel mit Gatte Joachim Sauer in Erwartung des griechischen Tragödien-Best-ofs. Kaum einer schien das Stück im Stück bemerkt zu haben, zumindest machte keiner eine Sache daraus. Die beiden wirkten ziemlich entspannt und im Freizeitmodus, so wie jedes andere Pärchen im Theater.

Gar nicht entspannt ging es derweil auf der Bühne zu. Der Regisseur Stephan Kimmig ließ seine armen Schauspieler unentwegt gegen eine Sperrholzwand rennen. Immer, wenn mal was nicht so lief, wie man sich das vorgestellt hatte, was ja der Kern einer jeden Tragödie ist, knallte man gegen die Wand. In der Gruppe oder solo. Alle paar Minuten: bamm. Das Schicksal ist unveränderlich. Okay, wir haben’s begriffen. Und weiter?

Warum bleibt die kritische Stimme des Chors aus? Sind wir denn so alternativlos? Wollten einst die griechischen Dichter, die hier zitiert werden, uns, das Publikum, nicht im demokratischen Denken erziehen? Man lernt ja nie aus. Doch die größten Potenziale des Stoffs, die auch nach zweieinhalbtausend Jahren noch törnen, ignorierte Kimmigs Inszenierung einfach. Statt der kritischen Infragestellung von Machtverhältnissen und Rechtsnormen gab es in „Ödipus Stadt“ ein tragisches Einzelschicksal nach dem anderen. Zweieinhalb Stunden lauwarme Verzweiflung.

Ein höflicher Applaus würdigte immerhin das tolle Ensemble, und zwei gut gebaute Männer erschienen aus dem Off, um die Kanzlerin nach Hause zu begleiten. Gegenüber von einem Bunker, in dem sich ganz viel interessante Kunst befinden soll, wartete ich auf den Bus. Jetzt wollte ich einen Knaller hören, aber nichts passierte. Irgendwie, dachte ich, bin ich im falschen Film.