DIE UNSICHTBARE HAND DER PLURALISIERUNG
: Fragiles Gleichgewicht

KNAPP ÜBERM BOULEVARDvonIsolde Charim

Zwischen Flüchtlingskrise und Kölner Silvesternacht leben wir „in einem fragilen Gleichgewicht“, so Navid Kermani im Interview mit dem Spiegel. Ein Gleichgewicht, das ständig bedroht sei durch die unterschiedlichen Identitäten. Denn „Identität bildet sich selbst im friedlichen Fall in Abgrenzung von anderen heraus“. Und auch wenn dieser Satz sowohl unmittelbar einleuchtet als auch einem alten philosophischen Theorem entspricht – für eine pluralistische Gesellschaft trifft er nicht zu.

Nicht weil pluralistische Gesellschaften sich so an ihrer Buntheit und Vielfalt so besonders erfreuen würden, dass sie im Taumel einer umfassenden Umarmung versinken würden. Aber um das eminent Neue, die massive Veränderung, die die Pluralisierung der Gesellschaft bedeutet (eine fürs europäische Kernland neue Erfahrung), zu erfassen, muss man diesen Satz zurückweisen. Oder zumindest umschreiben. In Gesellschaften mit großer Diversität bilden sich Identitäten eben nicht mehr (nur) in Abgrenzung von anderen heraus. In Gesellschaften mit großer Diversität bilden sich Identitäten (auch) durch die Eingrenzung der eigenen Identität heraus.

Das ist weniger abstrakt als es klingen mag. Das Neben­ein­ander unterschiedlicher Kulturen – von unterschiedlichen Feiern übers Essen bis hin zur Kleiderordnung –, das Ne­benein­ander unterschiedlicher Religionen – all das lässt einen die eigene Überzeugung, die eigene Identität, den eigenen Glauben als einen unter anderen erfahren. Pluralisierung ist also in erster Linie eine Erfahrung: die Erfahrung, dass die eigene Identität nicht selbstverständlich ist. Es ist die Erfahrung, dass man sich zum Eigenen entscheiden muss – dass also das Leben, der Weltzugang auch ein ganz anderer sein könnte. Es ist der Einbruch der Kontingenz ins Herz jeder Identität. Das ist eine tiefgreifende Erfahrung, die uns alle erreicht und unser Selbstverständnis unbemerkt aber massiv verändert.

Wir alle werden oder sind nun pluralistische, pluralisierte Individuen. Individuen also, deren Identität von jener der anderen eingegrenzt ist. Und genau in dieser Erfahrung, in dieser Einhegung wirkt etwas Neues. Etwas, das man die „unsichtbare Hand der Pluralisierung“ nennen könnte.

Wie bei jener des Marktes könnte auch diese unsichtbare Hand das Wunder vollbringen, dass der Bezug aufs Eigene unbeabsichtigt das Allgemeinwohl befördert. Gerade weil das Eigene nun eine eingeschränkte Identität ist.

Tatsächlich aber stehen wir derzeit wohl an der Kippe: an der Kippe, ob es gelingt, die pluralistische Demokratie – also die Pluralisierung der Demokratie ebenso wie die Demokratisierung des Pluralismus – aufrechtzuerhalten. Oder herzustellen. Oder zu befördern. Oder eben nicht.

Pluralisierung ist also in erster Linie eine Erfahrung: die Erfahrung, dass die eigene Identität nicht selbstverständlich ist

In dieser Situation rufen die unerwartetsten Stimmen nach dem Staat. Nach der Exekutive. Nach der Polizei. Von Navid Kermani bis zu Mark Terkessidis. Was ist das? Ein – je nach Standpunkt – Verrat oder ein Zurvernunftkommen? Eine Kehrtwende? Angesichts der Ereignisse in Köln. Angesichts der Zustände in Berlin muss man sagen: Es ist nichts von alledem. Es ist vielmehr eine Einsicht in die Notwendigkeit.

Ja, auch Linke rufen jetzt nach der Polizei und dem Staat. Gerade jetzt braucht es solche Organisationsinstitutionen, solche demokratischen Ordnungsinstanzen. Nicht zur Unterdrückung. Nicht zur Beschränkung der Freiheiten oder der Liberalität. In Zeiten eines massiven, unerwarteten gesellschaftlichen Wandels braucht es Institutionen zur Regulierung. Demokratische Institutionen zur demokratischen Regulierung. Das bedeutet Regulierungen zum Offenhalten der Freiräume. Regulierungen zum Schutz des Koordinatensystems einer freien Gesellschaft. Des Koordinatensystems, innerhalb dessen die „unsichtbare Hand der Pluralisierung“ sich entfalten und wirken kann.

Denn die Situation kann sehr wohl auch in die andere Richtung kippen. In jene, wo es statt zur Eingrenzung der Identitäten zu deren Deregulierung kommt. In jene Richtung also, wo die Re-regulierung nicht mehr demokratisch sein könnte. Sondern autoritär.

Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien