Zur Kenntlichkeit entstellt

AUSSTELLUNG Goya mag es eher düster und sarkastisch, Daumier spottet und Toulouse-Lautrec macht sich lustig –drei verschiedene künstlerische Temperamente: „Der exzentrische Blick“ in der Sammlung Scharf-Gerstenberg

Ein gesellschaftliches Theater, in dem sich die Züge von Tragödie und Komödie mischen

VON RONALD BERG

Im kleinen Marstall hinter dem östlichen Stüler-Bau gegenüber vom Schloss Charlottenburg spielt ganz großes Welttheater. Hier in der Sammlung Scharf-Gerstenberg der Berliner Nationalgalerie führen drei große Künstler auf den Jahrmarkt menschlicher Eitelkeiten: Francisco de Goya, Honoré Daumier und Henri de Toulouse-Lautrec.

Wir spielen alle Theater, diese Einschätzung der bürgerlichen Gesellschaft galt für das 19. Jahrhundert in besonderer Weise. Hier war die Diskrepanz zwischen Rollenerwartung und Performance des bürgerlichen Subjekts oft sehr auffällig. Man konnte aus der Rolle fallen oder unfreiwillig eine komische Figur abgeben. Am Beginn der Ausstellung hängt Toulouse-Lautrecs Blick in die „Große Loge“ wie zum Hinweis, dass der Besucher nun zum Publikum eines gesellschaftlichen Theaters wird, in dem sich die Züge von Tragödie und Komödie mischen.

Die folgenden Grafikblätter – und dazu von Daumier noch kleinere Gemälde und die Parlamentarierbüsten – stammen aus der historischen Sammlung des Versicherungsdirektors Otto Gerstenberg (1848–1935). Die bedeutende Privatkollektion umfasste einst circa 2.200 Werke und ist heute noch zu einem Viertel in Familienbesitz. Eine Rekonstruktion der ursprünglichen Sammlung in Druckform durch die Urenkelin Julietta Scharf ist gerade publiziert worden. Dies war Anlass für die Nationalgalerie, eine Auswahl aus der Sammlung zu zeigen. Sie gilt dem „Exzentrischen Blick“ der ausgewählten Künstler.

Anlass zu Spott

Es sind drei ganz verschiedene Temperamente, drei Generationen (Anfang, Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts) und drei unterschiedliche Herkünfte, die sich hier versammeln. Und doch verbindet alle der Blick des Außenseiters auf die Gesellschaft. Von außen aus gesehen mutet die scheinbar so honorige Mitte der bürgerlichen Gesellschaft ebenso merkwürdig an wie deren Ränder. Gerade das Normale bietet Anlass zu Spott und für karikatureske Überzeichnung. Oft wähnt man sich daher wie im Kabarett, wenn auf den Bildern die Menschen übereinander herfallen, raufen wie bei Daumier oder sich duellieren wie bei Goya, oder man sieht sich gleich in den Zirkus versetzt, von dem Toulouse-Lautrec den Kampf zweier Clowns wiedergibt.

Das Nebeneinander der drei Künstlerblicke beleuchtet vergleichbare Aspekte des gesellschaftlichen Lebens aus verschiedenen Perspektiven. Das Rechtssystem etwa, vom dem Goya schon die eselsdämlichen Gesetze mit einem ebensolchen Tiergleichnis verspottet, oder die Advokaten, die Daumier als geldgeil zeichnet, und schließlich die Gerichtsprozesse selbst, von deren theatralischer Aufführung Toulouse-Lautrec besonders die individuellen Charaktere interessieren – ob in Robe auf der Richterseite oder im bürgerlichen Kostüm des Biedermannes beim Beklagten. Toulouse-Lautrec macht das grandios.

Ansonsten interessierte sich Toulouse-Lautrec natürlich in seiner Kunst vor allem für Frauen. Auch hier, bei der Toilette, am Waschzuber oder backstage im Cabaret wirken seine Lithografien wie Schnappschüsse mit der Kamera, nur dass sein Strich den weiblichen Formen eine zusätzliche Sinnlichkeit verleiht. Nicht immer schmeichelnd und dafür das Wesen der Dargestellten auf den Punkt bringend.

Seine „tolle Kuh“, ein tobendes Ungetüm hinter dem in Panik davonstürzenden Bürger, ist von buchstäblich schreiender Komik. Goya ist da verquälter, schon im Strich seiner Radierungen. Bei seinem „von Hunden angegriffenen Stier“ weiß man nicht so recht, ob die Szene mit dem durch die Luft fliegenden Köter überhaupt lustig gemeint sei. Selbst heitere Szenen wie bei der „Frau auf der Schaukel“ spielen bei Goya ins Unheimliche.

Daumiers Humor hingegen kommt aus der Übertreibung. Sie entstellt zur Kenntlichkeit, macht – wie bei den kleinen Bronzebüsten – aus den Parlamentariern Charaktertypen wie den „Verächtlichen“, den „Feinschmecker“ oder den „Spötter“. Mit ihrem Aussehen könnten diese Honoratioren im Grunde auch als Lachnummer im Kabarett auftreten.

Ob im Parlament, im Salon, vor Gericht oder im Tingeltangel, die Menschen geben in den Augen der drei exzentrischen Künstler immer eine mehr oder weniger zwielichtige Rolle ab. Goyas Kritik ist eher düster und sarkastisch, Daumier spottet und Toulouse-Lautrec macht sich lustig. Ohne den exzentrischen Abstand der Künstler wären solch kritische Blicke auf die menschlichen Verhältnisse wohl nicht möglich.

■ „Der exzentrische Blick“. Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstr. 70, bis 17. 2., Di.–So. 10–18 Uhr