Kriminalität im Partykiez: Angetanzt und ausgeraubt
Der Partykiez um die Warschauer Straße wird immer gefährlicher: Diebstähle und Gewalt nehmen zu, die Polizei scheint überfordert. Ein Clubchef macht die Politik verantwortlich.
Ausgeraubt wurden die gebürtigen Berliner Silvia Koch und Jos Beek (Namen geändert) in ihrer Heimatstadt nie – bis zu einer Partynacht im Ausgehkiez rund um die Oberbaumbrücke in Friedrichshain-Kreuzberg.
Das Paar hatte in Clubs am Schlesischen Tor gefeiert, war auf dem Heimweg. An der Aral-Tankstelle am Flutgraben wurden Koch und Beek von jungen Männern angetanzt, umklammert und bestohlen. „Einer stand direkt vor mir und drohte, meinem Freund was anzutun, wenn ich mich wehre“, erinnert sich Koch. „Er schrie mich an. Ich hatte wahnsinnige Angst.“
Der Überfall ist kein Einzelfall. Nach Polizeiangaben haben Diebstähle und Raubdelikte rund um die Oberbaumbrücke und Warschauer Straße in den vergangenen Monaten zugenommen; bei Taschendiebstählen gebe es eine Tendenz zu Körperverletzungen.
Besonders gefährlich ist es am RAW-Gelände und an der Revaler Straße, sagt Polizeisprecher Thomas Neuendorf. Bekannt seien an diesen Orten drei Gruppen, die „gezielt Diebstähle begehen“: Einzelpersonen, kleine und größere Gruppen, die „teils arbeitsteilig vorgehen“; ihre Zielgruppe sind junge Partygäste, die meisten Opfer betrunkene Männer.
410 Großeinsätze hat die Polizei nach eigenen Angaben 2015 am RAW-Gelände durchgeführt. Insgesamt hat sie dort im letzten Jahr rund 3.600 Personen überprüft und rund 1.600 Strafanzeigen gestellt, in knapp 1.170 Fällen wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Im Dezember ermittelte die Polizei in sechs Fällen wegen Raub und in knapp 80 Fällen wegen Taschendiebstahl, im Schnitt seien es pro Monat 5–20 Raubüberfälle und ca. 100 Diebstähle. (taz)
Keine sexuellen Übergriffe
Anzeigen und Hinweise, dass es in Berlin bei „Antanz“-Überfällen zu sexuellen Übergriffen kam, liegen der Polizei nicht vor. „Auch nicht für Silvester“, ergänzt Neuendorf. In Köln und anderen deutschen Städten waren Menschen in der Silvesternacht sexuell belästigt worden – vermutlich von Tätern, die sich in Gruppen zusammenschlossen und ihre Opfer teilweise „antanzten“. Bis Dienstag gingen in Köln rund 550 Strafanzeigen ein, etwa 45 Prozent der Fälle stehen im Zusammenhang mit Sexualdelikten. Auch Carola Klein von Lara, dem Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen, kennt bisher keine Fälle von Diebstählen im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen.
Ob und wo in Berlin solche Übergriffe zu befürchten sind, ist laut Neuendorf unbekannt und spekulativ. Derartige Taten seien nicht auf die Lage bestimmter Orte zurückzuführen, sondern auf die Ansammlung von Menschenmengen. Die Berliner Polizei werde das „Antanz“-Phänomen aber weiter beobachten und Straftaten rund um die Oberbaumbrücke noch genauer auswerten.
Im August 2015 rückte die steigende Kriminalität im Kiez bundesweit in den Fokus, nachdem es am RAW-Gelände zu mehreren Raubüberfällen gekommen war. Unbekannte verletzten unter anderem einen Freund der Sängerin „Jennifer Rostock“ lebensgefährlich mit einem Messer.
Seit Sommer 2015 wendet sich die Polizei verstärkt in sozialen Online-Medien an Partygänger; informiert über Tatorte und die Methoden der Täter. Trotzdem sei die Zahl der Diebstähle und Raubdelikte seitdem gestiegen, berichtet Neuendorf. Ein Problem: Die Nachrichten der Polizei über Facebook und Twitter erreichen nicht alle potenziellen Opfer.
Auch Nico Fuchs war die „Antanz“-Methode unbekannt. Er begleitete Koch und Beek in jener Nacht nach Hause. Beim Überfall ahnte er zunächst nichts Böses, als sich junge Männer vom Gehwegrand näherten und auch ihn antanzten: „Ich dachte, die hätten einfach nur gute Laune, wollten Spaß haben.“ Fuchs lebte zu diesem Zeitpunkt erst wenige Tage in Berlin, vorher in Spanien. Dort sei es „häufiger vorgekommen, von gut gelaunten Menschen auf der Straße angetanzt zu werden“. Die Berliner „Tänzer“ aber waren nicht nur auf Spaß aus – sondern auf Geldbörsen, Schlüssel und Mobiltelefone.
Die rund zehn Täter trieben ihre Opfer auseinander, machte die Lage unübersichtlich. Beek fühlte sich „sehr bedroht“, vermied aber, aggressiv zu handeln: „Ich dachte, bloß ruhig bleiben! Die hätten jederzeit ein Messer ziehen können.“ Die Zahl der Täter habe ihn eingeschüchtert. „Es war nicht abschätzbar, aus welcher Richtung ein Angriff kommen könnte“, berichtet Beek. Während er und seine Freundin umklammert wurden, rannten einzelne Täter mit dem Diebesgut in den nahen Park am Flutgraben.
Fuchs entging den Umklammerungen, wurde nicht beraubt. Schnell merkte er, dass „etwas nicht stimmte“, rief sofort die Polizei an. Drei Minuten später sah er einen Mannschaftswagen eintreffen – alle Verbrecher seien bereits geflüchtet gewesen. Polizisten hätten sich an der Straße umgeschaut, nicht aber den Park abgesucht.
Polizei ist „überfordert“
Bei der Zeugenaussage vor Ort sagte ein Polizist zu den Opfern: „Wir sind überfordert. Das passiert hier jeden Tag mehrmals.“ Offiziell klingt das anders: Neuendorf könne das „nicht bestätigen“. Dass die Polizei beim Überfall „schnell kam“, würde bereits zeigen, dass sie nicht überfordert sei. Außerdem gebe es „an der Schlesischen Straße“, am RAW-Gelände und an der Warschauer Straße regelmäßig Festnahmen.
Ein Mitarbeiter der Tankstelle am Tatort sagte den Opfern, er und Kollegen seien nach Feierabend schon mehrfach vor Ort überfallen worden. „Die Polizei weiß, wer wann wo zuschlägt, kriegt die Täter auf dem Silbertablett serviert und schafft es trotzdem nicht, die Gegend sicherer zu machen. Das ist ein Skandal!“, ärgert sich Fuchs und ergänzt: „Das hätte richtig übel enden können. Was wäre, wenn die Täter mit einem Messer zugestochen hätten?!“
Den Vorwurf, dass der Polizei die Täter bekannt seien und sie nichts mache, weist Neuendorf entschieden zurück. Die Polizei führe regelmäßig Razzien in der Gegend durch und setze Zivilpolizisten ein. „Bei Straftaten leiten wir Ermittlungsverfahren ein, über Haftstrafen entscheiden die Gerichte“, sagt er.
Was aber tun die Clubs und Bars im Kiez für die Sicherheit ihrer Gäste? Für Steffen Hack, „Watergate“-Clubchef seit 2002, geht diese Frage „seit Jahren an den Ursachen vorbei“. Medien, Politik und Polizei würden „immer falsch berichten“. Denn nicht die Clubs seien schuld an der steigenden Kriminalität vor ihren Türen, sondern die „offenen europäischen Grenzen“ sowie die Bezirkspolitik und der Senat um Frank Henkel (CDU). „Es werden immer mehr Touris eingeflogen, Spätis und Hostels in Club-Nähe eröffnet. Aber in die Sicherheit vor Ort wird nicht gleichermaßen investiert“, sagt Hack. Er kritisiert den „politisch gewollten“ Tourismuszuwachs der Hauptstadt. Ins „Watergate“ am Spree-Ufer strömen viele Touristen.
Polizeipräsenz gewünscht
Einige Clubbetreiber wünschen sich von der Polizei „dauerhaftere und schnellere Präsenz vor den Clubs“, berichtet der Vorsitzende des Berliner Kulturverbands „Clubkommission“, Olaf Möller. Die Betreiber hätten auf die Sicherheit vor ihren Türen nur begrenzt Einfluss, wären angewiesen auf die Zusammenarbeit mit der Polizei. Hack sieht für eine solche Zusammenarbeit keine gemeinsame Vertrauensbasis, es gebe keine Absprache zwischen der Polizei und den Clubs.
Die Polizei würde den Clubs und Türstehern voreingenommen entgegentreten, wirke mit ihrer „hochgerüsteten Erscheinung“ vor Ort nicht deeskalierend, wäre überlastet, schlecht ausgebildet und unfähig. Schuld daran seien Entlassungen und Einsparungen im öffentlichen Dienst. Der Watergate“-Chef fordert mehr und besser geschultes Wachpersonal. Sein Vorschlag: „gut ausgebildete Kiez-Läufer“, die kommunikativ auf die Menschen einwirken. Für die wäre aber vermutlich „kein Geld in der Senatskasse“, glaubt Hack. Die Clubs seien auf sich allein gestellt.
Die Polizei sieht das anders: Auf dem RAW-Gelände arbeite sie mit den Geschäftsführern und Eigentümern der Clubs stetig daran, das Sicherheitskonzept zu verbessern; spreche zusätzlich mit dem Bezirksamt und dem LKA über „städtebauliche Kriminalprävention“ auf dem Privatgelände. Zur Debatte stünden: Gelände besser beleuchten, Hölzer roden, Zugänge reduzieren, Warnhinweise anbringen, Sicherheitsdienste verstärken und schauen, ob Videoüberwachungen möglich sind. Möller berichtet, erste Maßnahmen habe das Bezirksamt bereits umgesetzt: Securitys wurden aufgestockt, Beleuchtungen verbessert; um die Sicht zu verbessern, wurden Bäume gestutzt.
Polizeisprecher Neuendorf wertet die Maßnahmen als Erfolg: Sie hätten „das Sicherheitsgefühl von Anwohnern, Gewerbetreibenden, Besuchern und Touristen erhöht“, ebenso „sichtbar und deutlich den Überwachungsdruck für agierende Tätergruppen“. Hack glaubt trotzdem, dass die Gewalt im Kiez steigen wird. Videoüberwachungen hält der „Watergate“-Chef für „Blödsinn“. Sie würden Gewalttaten nicht vorbeugen, Probleme nicht lösen.
Maßnahmen entwickeln
Um die Sicherheit auf dem RAW-Gelände und außerhalb zu erhöhen, will die Clubkommission demnächst einen selbst entwickelten Maßnahmenplan veröffentlichen. Zusätzlich berät sich der Kulturverband mit der Polizei, dem Ordnungsamt und privaten Sicherheitsfirmen. Fürs Erste sei damit begonnen worden, das Verstecken von Drogen zu erschweren, berichtet Möller. Kriminalität per se könne diese Maßnahme aber nicht verhindern. Dafür brauche es vor allem die Polizei.
Wenige Tage nach dem Überfall auf Koch, Beek und Fuchs wurde eine Freundin Kochs auf der Warschauer Straße bestohlen – zwei Mal in einer Nacht. Wieder hatten es die Täter auf Handys, Schlüssel und Geldbörsen mit Kreditkarten abgesehen. Wieder entkamen die Diebe – auch der Polizei. Mitarbeit: Uta Schleiermacher
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