Kinder an die Macht

Bühne Im Theaterstück „Die Ministerpräsidentin“ am Atze Musiktheater wird ein zwölfjähriges Mädchen Regierungschefin

"Erwachsene wollen nichts von Kindern lernen – und auch nichts voneinander"

Was würde passieren, wenn nicht Angela Merkel, sondern ein Kind an der Spitze des Staates stehen würde? Einem solchen Gedankenexperiment widmet sich das Theaterstück „Die Ministerpräsidentin“ am Atze Musiktheater. Der Vater der zwölfjährigen Hannah soll die Wahlkampagne für die neue Partei „Stimme der Zukunft“ organisieren. Als Kandidatin will die Partei ein Kind aufstellen und Hannahs Vater überredet seine Tochter, gegen die erwachsenen PolitikerInnen anzutreten. Hannah sagt, was sie denkt. Sie überzeugt die Öffentlichkeit durch ihre ehrliche Art und wird tatsächlich zur Regierungschefin gewählt.

Die Inszenierung beruht auf der gleichnamigen norwegischen Buchvorlage von Tore Tungodden. Atze-Theaterleiter Thomas Sutter hat als Regisseur und Komponist daraus ein witziges und anspruchsvolles Singspiel geschaffen, das am vergangenen Samstag uraufgeführt wurde. Das Stück richtet sich vorrangig an Kinder, doch es ist auch für erwachsene ZuschauerInnen unterhaltsam. Das liegt vor allem an den schrulligen Charakteren, zum Beispiel dem Kühlschrank, der auf sein Recht besteht, gefüllt zu werden, und singt „Ich kühl so vor mich hin“.

Großartig ist auch die energische Politikerin der Sozial-Christlich-Muslimischen Partei, kurz SCMP, die immer im Vordergrund stehen will. Hannahs Vater, der an Bluthochdruck leidet, wirkt überaus drollig, wenn er sich in eine seiner Ideen hineinsteigert und auf der Bühne herumspringt. Einzig der Spruch „Voll fette Kiste!“ des ansonsten liebenswürdigen Fred, des besten Freunds von Hannah, nervt nach einer Weile – zumindest Erwachsene.

Das Stück kritisiert das Verhalten von Politik und Medien. In einer herrlich überzeichneten Talkshow preisen die KandidatInnen der verschiedenen Parteien ihre Wahlprogramme an, wobei sie sich in ihren leeren Versprechungen sehr ähneln. Alle reden sie von Wachstum, Sicherheit, Wohlstand und Arbeitsplätzen. Sie werden als machtbesessene EgozentrikerInnen dargestellt. Auch die Presse wird parodiert: „pawlowsche Hunde“ nennt Hannahs Vater sie. Sensationsgierig stürzen sie sich auf Hannah und geben alles wieder, was sie sagt. „Das ist so ein schönes Titelbild! Das geht ans Herz!“, singen sie. Hannah wirkt in ihrer kindlichen Naivität viel klüger. Sie sagt: „Das Problem ist, dass Erwachsene nichts von Kindern lernen wollen und auch nichts vonein­ander.“ Erwachsene würden immer recht haben wollen und sogar streiten, selbst wenn sie wüssten, dass die oder der andere recht habe. Zudem will sie das Familienministerium streichen, weil sie der Meinung ist, dass sich alle Ministerien für die Bedürfnisse von Kindern und Familien einsetzen sollten.

Spannend, aber zu belehrend

Im Foyer haben die fiktiven Parteien Stände aufgebaut und verteilen Flyer. In der Pause können die ZuschauerInnen Wahlzettel ausfüllen und abstimmen. Eine der Forderungen der „Stimme der Zukunft“ ist das Wahlrecht für Kinder. Wenn dumme Erwachsene und selbst Nazis wählen dürfen, so Hannahs Vater, warum dann nicht Kinder? Gegen Ende wird das Stück leider zu komplex und mit Themen überladen. Zu viele neue Bereiche wie Weltwirtschaftskrise, Aktienmarkt und Korruption werden angeschnitten. Das Stück will am Schluss ein wenig zu viel belehren und pädagogisch wertvoll sein. Der Handlung, die einige spannende Wendepunkte beinhaltet, kann man allerdings trotzdem folgen.

Musikalisch entwickelt das Stück eine hohe Energie und Dynamik. Die SchauspielerInnen wechseln fließend zwischen Gesprochenem und Gesang. Dazu spielt ein Pianist live auf einem Digitalflügel. Der Schauspieler des Spitzenkandidaten der Partei der globalen Gleichheit fungiert gleichzeitig als Cellospieler. Hannah spielt in ihrer Freizeit Schlagzeug, Fred Ukulele. Sutter komponierte eine abwechslungsreiche Musik, die sich auf hohem Niveau zwischen verschiedenen Stilrichtungen bewegt. Nur das Lied der Partei „Stimme der Zukunft“ ist ein bisschen langweilig. Die Melodie klingt nach heiler Welt. Den Kindern im Saal scheint es allerdings zu gefallen. Sie singen begeistert mit. julika bickel

„Die Ministerpräsidentin“ am Atze Musiktheater, ab 9 Jahren, 120 Minuten inkl. Pause, Eintritt 9,50 Euro, noch bis 6. Juli