Ein ganz normaler Schulalltag

Die Lehrerin Isolde F. ist tot. Das Lübecker Landgericht bestraft einen Schüler und seinen Bruder wegen gefährlicher Körperverletzung und Mord zu Haftstrafen. Der Richter kann keine Schikanen erkennen, die eine solche Tat rechtfertigen

Die Lehrerin stürzte zu Boden, Vitali setzte mit dem Schlagring nach

Aus Lübeck Elke Spanner

Alex O. wollte immer wie sein großer Bruder sein. Unerschrocken, selbstbewusst, sogar unter Mordanklage nach außen hin die Ruhe selbst. Vitali hat sich im Gerichtssaal getraut, seinen Blick herausfordernd über die Zuschauer schweifen zu lassen, als Alex noch kaum wagte, ihn vom Tisch vor sich abzuwenden. Sogar Kaugummi hat der Ältere gekaut, während Alex unaufhörlich auf seiner Unterlippe knabberte. Erst als seine Lehrer als Zeugen aussagten, gewann Alex an Sicherheit.

Sie lobten den 18-Jährigen durchweg als gewissenhaften Schüler und machten damit ein Gerücht glaubhaft, dass nach dem Tod der Klassenlehrerin Isolde F. im Januar an der Heimgarten-Realschule in Ahrensburg kursierte: dass Alex einer überzogenen Strenge, sogar Schikane seiner Lehrerin ausgesetzt war. Im Lübecker Landgericht war endlich das zur Sprache gekommen, wofür Alex in den Monaten zuvor kein Gehör gefunden hatte, und der 18-Jährige blühte sichtbar auf. Das neue Selbstbewusstsein hat die Jugendkammer des Lübecker Landgerichtes gestern wieder zunichte gemacht.

Zwar sprachen die Richter ihn vom Vorwurf frei, ein Mörder zu sein. Nur eine gefährliche Körperverletzung wird dem jungen Deutschrussen zur Last gelegt. Mit drei Jahren und zehn Monaten Haft kommt Alex davon, sein Bruder Vitali hingegen muss wegen Mordes acht Jahre und neun Monate in Haft. In der Begründung aber hat der Vorsitzende Richter das Selbstbild des Schülers zerstört, mit dem allein er die blutige Tat vor sich rechtfertigen wollte. Alex ist demnach im Konflikt mit der Lehrerin kein Opfer, sondern Täter gewesen. Die Ursache für den Dauerstreit mit Isolde F. habe ganz allein in seinem Betragen im Unterricht gelegen.

Der 18-Jährige, hielt das Gericht ihm vor, hat an der Ahrensburger Heimgarten-Realschule kein Mobbing, sondern einen „ganz normalen Schulalltag“ erlebt. Was am 16. Januar als tödliches Drama endete, begann nach Überzeugung des Gerichts als alltäglicher Konflikt. Alex war ein guter Schüler der Realschule in Ahrensburg, doch schon, dass er diese besuchte, stellte für ihn eine große Niederlage dar. Zuvor war der junge Aussiedler aus Kasachstan auf dem Gymnasium. Obwohl er bei seiner Ankunft in Deutschland zehn Jahre zuvor noch kein Wort der Landessprache gesprochen hatte, schaffte er es binnen kürzester Zeit auf die Oberschule.

Sein Ehrgeiz war sehr stark, der seiner Mutter auch. So war Alex der Stolz der Familie – und wurde zum Sorgenkind, als die Leistungen abfielen. Im Sommer 2003 wechselte er auf die Realschule. Dort schien er doch noch ein passables Zeugnis zu bekommen. Nur im Fach Deutsch, da kam Alex nicht mehr mit. Es häuften sich die Konflikte mit der Lehrerin Isolde F., aber nicht nur: Auch zuhause gab es ordentlich Druck. Beide, Lehrerin und Mutter, wollten den Jungen zu besseren Leistungen anstacheln.

Sie taten es auf eine Weise, die Alex immer stärker in die Verzweiflung trieb. Die Mutter setzte Schläge und ließ ihn spüren, dass jede schlechte Note für sie eine Enttäuschung sei. Und seine Lehrerin, streng im Ruf, setzte kompromisslos ein rigides Strafsystem durch, das eine Schulkonferenz eingeführt hatte. Das sah vor, dass jedes Vergehen mit einer Sechs geahndet wird. Alex kassierte irgendwann fast täglich schlechte Noten für schlechtes Betragen ein. Die Fünf, die ihm schließlich in Deutsch drohte, bildete nicht mehr seine Leistung, sondern den Konflikt mit seiner Lehrerin ab.

Als Beleg für Schikane dient dem Gericht das allerdings nicht. Allein Alex habe die Ursache für den Dauerstreit gesetzt. Er habe seine Hausaufgaben nicht gemacht und sich ungerecht behandelt gefühlt, wenn die Lehrerin mit einer Sanktion darauf reagierte.

Dass Lehrer „auch mal härter durchgreifen bei Schülern, die wiederholt aufgefallen sind, liegt auf der Hand“, sagte der Vorsitzende Christian Singelmann. Es gehöre zum Schulalltag, dass Schüler Missbilligungen erfahren. Zum Schulalltag gehöre es auch, dass es dabei gelegentlich zu einer Ungerechtigkeit kommt. Dass jemand aber wegen eines derart „geringfügigen Anlasses“ eine derart schwerwiegende Tat begeht, „das hat die Kammer noch nicht erlebt“.

Vor dem Mord an der Lehrerin hat Alex noch versucht, in der Schule Hilfe zu bekommen. Er hat dem Direktor und der Sozialarbeiterin vom Dauerstreit mit Isolde F. erzählt. Die aber waren zum Schlichten nicht bereit. Statt auch mit der 55-Jährigen zu sprechen, haben sie Alex aufgefordert, sich bei der Lehrerin zu entschuldigen, weil er bei einem Streit laut geworden war. Selbst der Anwalt der Nebenklage, der den Sohn der Getöteten vertritt, erkannte in seinem Plädoyer an, dass das schulische Umfeld „falsch reagierte“. Einzig sein Bruder Vitali erkannte seine Not. Er hat sich schon immer für den jüngeren Bruder verantwortlich gefühlt. Als die Familie noch in Kasachstan lebte, war es Vitali, der für die beiden jüngeren Geschwister zuständig war. Die Eltern waren beide berufstätig und den ganzen Tag außer Haus. Vitali verbrachte die Tage mit den Kleinen, und hatten die etwas ausgefressen, musste der große Bruder dafür die Backen herhalten. So glaubte ihm das Gericht, dass er es nicht ertragen konnte, seinen Bruder unter der Lehrerin „leiden zu sehen“. Immer wieder schilderte ihm Alex vermeintliche Ungerechtigkeiten seiner Lehrerin. Er sah ihn wütend, weinend, und als Alex wegen der schlechten Deutschnote gar um die erhoffte Karriere bei der Bundeswehr bangen musste, beschloss Vitali, nicht länger tatenlos zuzusehen.

Dass Alex maßloser Willkür seiner Lehrerin ausgesetzt war, habe sein Bruder ihm bedingungslos geglaubt. Am Abend des 16. Januar hat Alex Vitali von dem Restaurant abgeholt, in dem der Bruder als Kochlehrling arbeitete. Von dort nahm Vitali ein Fleischermesser mit. Sie fuhren zur Ahrensburger Wohnung von Isolde F., klingelten, verschafften sich unter einem Vorwand Zutritt zur Wohnung und Vitali schlug mit einem Schlagring zu. Die Lehrerin stürzte zu Boden, Vitali setzte mit dem Schlagring nach. Der Staatsanwalt ist sicher, dass Alex zumindest auch zugeschlagen hat. Das Gericht ist dem nicht gefolgt. Die Version eines gemeinsamen Mordes sei möglich, aber nicht erwiesen. Denkbar sei ebenso, was Vitali in seinem Geständnis behauptet hat: dass die Brüder Isolde F. nur einschüchtern wollten und dann die Situation eskalierte. „Im Zweifel für den Angeklagten“ heißt für Alex deshalb, dass er nun wegen der Körperverletzung verurteilt wurde, die er mitgeplant haben soll.

Die Eltern der beiden Brüder sind bei der Urteilsverkündung nicht im Saal. Sie haben den Prozess gegen ihre Söhne nicht einmal besucht. Nur der jüngste Bruder ist gekommen. Nach der Verhandlung steht ihm die Freude über die milde Strafe für Alex ins Gesicht geschrieben, wenn er auch seine Anspannung mit Kettenrauchen abbauen muss. Zum Urteil sagen möchte er nichts. Nur dass das „so schon in Ordnung geht“.