Visitenkarten für Maikäfer

Ich arbeite, also bin ich – das war einmal. Deshalb macht der Arbeitslose auf der Bühne Karriere: Das Gorki Studio widmet ihm eine ganze Reihe. Slapstick ist wieder der letzte Trost für den Entzug von Sinn in einer Farce aus Kanada

Mit Visitenkarten ist es wie mit Turnschuhen. Wer die richtigen hat, darf mitspielen; wer nicht, Game over. Bret Easton Ellis begriff das Protzen mit Visitenkarten in seinem 90er-Jahre-Yuppie-Roman „American Psycho“ als unbarmherziges Gesellschafts-Spiel, Metapher für die krankhafte Oberflächenfixiertheit jung-dynamischer Neureicher: „Wir beugen uns vor und inspizieren Davids Karte, und Price sagt leise: ‚Die ist wirklich nett.‘“

Auch Simon Labrosse hat Visitenkarten, nur will die keiner sehen. Ein aggressiver Herr, dem sich der Held des Dramas „Die sieben Tage des Simon Labrosse“ als „Gefühlsstuntman“ anbietet, zerreißt die Karte in tausend Stücke. Das Spiel ist aus, Ende, könnte man denken. Nicht jedoch für Simon Labrosse, denn er ist jung, dynamisch, kreativ und flexibel, wie es die heutige Arbeitswelt verlangt – und dennoch arbeitslos.

Mit der deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks der Frankokanadierin Carole Fréchette widmet sich das Gorki Studio einer Facette der Massenarbeitslosigkeit, die selbst vor dem gut ausgebildeten Nachwuchs längst nicht mehr Halt macht. Das Gorki Theater nimmt dies ernst, so ernst, dass es unter dem Motto „Und die Hoffnung stirbt zuletzt … Arbeit für alle!“ sechs Ur- und Erstaufführungen auf den Spielplan gehoben hat. Ich arbeite, also bin ich – das war einmal.

Britta Schreibers Inszenierung der Farce ist der zweite Beitrag der Reihe – und bestimmt nicht der schlechteste, wenn auch bei der Premiere am Dienstag der Slapstick ein bisschen überhand genommen hat. Konzipiert als Spiel im Spiel, bedient es sich einer wohlbekannten und konventionellen Form: „Sie sind gekommen, sich mein Leben anzuschauen“, macht Simon (Stephan Wolf-Schönburg) dem Zuschauer gleich zu Beginn klar, was ihn in den kommenden 75 Minuten erwartet. Bevor’s losgehen kann, muss er sich allerdings erst mal mit den Macken seiner Mitspieler rumschlagen: Nathalie (Anna Kubin), die immerzu von ihren Organen erzählen will, die sie offenbar für ihre inneren Werte hält, und Léo (Ulrich Anschütz), der einen Riss in der Hirnrinde hat, „genau an der Stelle, wo die Wörter entstehen, und zwar die po… äh … die po…“ Er meint die positiven. Folglich bleibt ihm gar nichts anderes übrig als die ganze Zeit rumzugranteln – herrlich, wie Anschütz sich in seine Rolle reinwirft. Nathalie spielt alle Frauenrollen in Simons Leben, vom naiven jungen Ding bis zur verknöcherten alten Jungfer, und Léo alle Männer, alles Arschlöcher übrigens.

Im kargen weißen Bühnenraum (von Halina Kratochwil) hasten sie also mit wenigen Requisiten und in Kleidern, deren Grün und Blau ohne Wärme ist, durch das Destillat einer traurigen Existenz. Keine Arbeit, keine Freundin – und am siebten Tag nicht mal mehr Mitspieler. Simon Labrosse, den Wolf-Schönburg als verstörende Mischung aus Traumtänzer und Strippenzieher gibt, sagt völlig ungerührt: „Alle meine Probleme dürften im Grunde tröstlich für Sie sein.“

Das Gegenteil ist der Fall, denn natürlich ist das hier mehr als Theater, Labrosse Stellvertreter von fünf Millionen Deutschen ohne Arbeit. Wie ein Maikäfer, der auf den Rücken gefallen ist, strampelt dieser Labrosse um sein Leben, seinen Platz in der Gesellschaft. Ein Sisyphos, der mit seinem Schicksal noch keinen Frieden geschlossen hat. Das Publikum muss tatenlos zusehen und sich am Ende auch noch diesen Vorwurf gefallen lassen, sich am Leid anderer zu ergötzen. Eine Ohrfeige als Schlusspointe eines bittersüßen Theaterabends. DAVID DENK

Weitere Vorstellungen im Gorki Studio: 27. + 28. 10., 6./12./20./24. 11., jeweils 20 Uhr