piwik no script img

„Wir müssen es schaffen, alle zu versorgen“

AUSBILDUNG In Hamburg gehen vier von zehn Schulabgängern in eine dualeÜbergangsmaßnahme. Rainer Schulz, der Leiter von Hamburgs Berufsschul-Institut, zu den Erfolgsaussichten und den Herausforderungen durch hinzukommende Flüchtlinge

Ganz eigene Bedürfnisse: Flüchtlinge in einem Vorbereitungspraktikum in einem metallverarbeitenden Betrieb   Foto: dpa

Interview Kaija Kutter

taz: Herr Schulz, von Hamburgs Schulabgängern der 10. Klassen haben nur 37 Prozent eine Ausbildung begonnen. Dagegen haben 44 Prozent bei Ihnen am Institut für berufliche Bildung eine duale Ausbildungsvorbereitung begonnen. Warum nicht gleich elf Jahre Schulzeit?

Rainer Schulz: Grundsätzlich gibt es ja elf Jahre Schulzeit in Hamburg, sofern Jugendliche nicht sofort ihre Ausbildung beginnen. Und auch die Jugendlichen, die in Ausbildung starten, gehen noch drei Jahre in die Berufsschule. Aber nochmal zurück zu Ihrer Frage: Die Ausbildungsvorbereitung „AV Dual“ ist die bessere Alternative, als einfach nur die Besuchszeit an der allgemeinbildenden Schule zu verlängern, denn AV Dual bereitet sehr gut auf den Übergang in Ausbildung vor. Die Jugendlichen gehen an zwei Tagen der Woche zur Schule und an drei Tagen in ein betriebliches Praktikum. Wir wollen so jenen, die noch nicht ausreichend beruflich orientiert sind, zu einer Berufswahl verhelfen und den Übergang in eine Ausbildung gestalten. Bei so vielen Schülern?44 Prozent ist zu hoch. Aber darunter sind viele Schüler, die von den Förderschulen kommen oder keinen Schulabschluss haben. In AV Dual werden sie individualisiert entsprechend ihrer jeweiligen Voraussetzungen auf eine Ausbildung vorbereitet und können dort gleichzeitig einen Schulabschluss erwerben.An Hamburgs Stadtteilschulen wurde doch gerade erst die Berufsorientierung eingeführt. Lehrer der Berufsschulen gehen in die 8. Klassen und beraten. Das scheint wenig erfolgreich.

Doch. Die 36,7 Prozent, die jetzt direkt in Ausbildung – und da vor allem in betriebliche Ausbildung – gehen, sind ein Erfolg. 2012 waren das nur 25 Prozent. Aber da ist noch Luft nach oben. Nach drei, vier Jahren unserer Reform müssen wir gucken, ob etwas verbessert werden kann. Ist Berufsberatung in Klasse 8 zu früh? Das Thema stresst ja auch. Für die Frage, was nach der Schule kommt, ist das nicht zu früh. Viele setzen sich nicht rechtzeitig damit auseinander, weil sie hoffen, dass sie in die Oberstufe kommen. Andere sagen: Ich will noch nicht in die Ausbildung, weil ich nicht weiß, was ich machen will. Es gibt einen anderen Teil, der ist einfach noch nicht so weit: Schüler mit Förderbedarf oder Problemen im sozialen Umfeld. Warum gibt es nicht vielfältigere Angebote? Zum Beispiel mehr Produktionsschulen? Es gibt ja 400 Plätze an Produktionsschulen. Die haben das gleiche Ziel wie AV Dual, nämlich Jugendliche zum Lernen zu befähigen und in Ausbildung zu bringen. AV Dual macht das stärker schulisch und betrieblich. Die Produktionsschulen verbinden Arbeiten und Lernen in einem Umfeld, das möglichst wenig an Schule erinnert. Aber dort müssen Schüler sich bewerben und zur Zeit ist die Platzzahl in Produktionsschulen ausreichend.Es ist ja nicht so, dass nach einem Jahr AV alle glücklich in Ausbildung sind. Laut Bilanz zum Stichtag 15. September hatten nur 40 Prozent der Vorjahresteilnehmer einen Platz. Und sieben Prozent waren in Beschäftigung, weitere 5,6 Prozent gingen wieder weiter zur Schule. Aber was macht der Rest? Die Politik hat versprochen, dass jeder einen Ausbildungsplatz bekommt.

Die meisten sind versorgt. Knapp 300 machen eine Berufsvorbereitung bei der Bundesagentur für Arbeit oder einem freien Träger. Rund 600 waren zum Stichtag noch in der Beratung bei der Jugendberufsagentur, hatten aber eine Ausbildung oder eine Anschlussmaßnahme in Aussicht. Es gibt einen harten Kern von rund sieben Prozent, die nach einem Jahr AV Dual erklären, dass sie nicht weiter beraten werden und vorerst keine Ausbildung machen wollen.

In der Summe sind das über tausend junge Leute. Können Sie uns denn in einem Jahr sagen, wo die geblieben sind?

Nicht auf Knopfdruck. Die Jugendberufsagentur erfasst die Daten und berät die jungen Erwachsenen, schreibt sie an und bleibt in Kontakt, bis diese eine Perspektive entwickelt haben. Die Daten zu statistischen Zwecken weiter zu verarbeiten, lässt der Datenschutz nicht zu.

Gibt es nicht dafür extra eine Einverständniserklärung?

Die dient ausschließlich dazu, dass wir die Daten speichern und die Jugendlichen anschreiben dürfen.

So wissen wir aber nicht, was Sache ist. Unter Hamburgs Lehrstellensuchenden sind immer tausende Altbewerber früherer Jahre.

Insgesamt haben wir in Hamburg eine eher geringe Jugendarbeitslosigkeit. Und wir beobachten, dass das vielfältige Angebot öffentlicher Ausbildungsmaßnahmen nicht voll in Anspruch genommen wird sowie nicht alle betrieblichen Ausbildungsplätze besetzt werden. Wir haben immer junge Menschen, die zum Beispiel ein freiwilliges soziales Jahr oder einen Auslandsaufenthalt absolvieren und sich erst dann auf eine Lehrstelle bewerben. Es wird darüber hinaus auch immer einen Anteil von jungen Erwachsenen geben, die zum Beispiel auf Grund ihres sonderpädagogischen Förderbedarfs oder anderer persönlicher Problemlagen keine reguläre Ausbildung abschließen können, aber dennoch erwerbstätig sein werden.

In Zukunft sollen auch 2.000 junge Flüchtlinge ins AV Dual.

Ja, wir haben ein AVM Dual für Migranten entwickelt. Das dauert zwei Jahre und besteht aus drei Tagen Schule und zwei Tagen Praktikum, damit mehr Zeit für den Spracherwerb bleibt. Zurzeit sind bereits 500 im AVM Dual. Ab Februar kommen weitere 500 Teilnehmer, und wir rechnen dauerhaft mit 2.000. Wir mussten zunächst Lehrer anwerben und Räume akquirieren. Jetzt ist die Herausforderung, genügend Praktikumsplätze in Betrieben zu finden. Unterrichtet das HIBB auch junge Flüchtlinge, die nicht alphabetisiert sind? Ja. Es können etwa 20 bis 25 Prozent nicht lesen und schreiben. Das HIBB wird in Zukunft zwei Typen von Klassen haben. Alphabetisierungskurse, die dauern ein Jahr, und das AVM Dual mit der Dauer von zwei Jahren. Hat das HIBB Expertise für die Analphabeten?

Es ist nicht leicht, so schnell Experten zu finden. Wir haben Lehrer z.B. von der Volkshochschule eingestellt, die dort viele Jahre Alphabetisierungskurse durchgeführt haben.

Rainer Schulz

57, ist Leiter des Hamburger Instituts für Berufliche Bildung (HIBB), in dem seit 2007 alle Hamburger Berufsschulen geführt werden. Zuvor war er 13 Jahre Schulleiter einer Berufsschule.

Reicht die kurze Zeit, um ausreichend Deutsch zu lernen?

Der Sprachunterricht muss natürlich während der dreijährigen Ausbildung weitergehen. Ein fertig Ausgebildeter hätte dann fünf Jahre gezielte Deutschförderung.

Woher kommen die Ausbildungsplätze?

Das ist dann die nächste Frage. Wir haben zur Zeit 2.500 junge Flüchtlinge im berufsbildenden System. Spätestens, wenn der erste Jahrgang aus AVM Dual in eine duale Ausbildung übergeht, brauchen wir zusätzliche Ausbildungsplätze. Wir müssen es schaffen, alle Flüchtlinge mit einem Platz zu versorgen, ohne dass es zu einem Verdrängungswettbewerb kommt. Die Frage ist, brauchen wir mehr betriebliche und gegebenenfalls öffentlich geförderte Ausbildungsplätze. Gute Idee. Was spricht denn dagegen, in dieser Lage?

Bei betrieblicher Ausbildung sind die Chancen besser, dass ein Auszubildender auch übernommen wird. Die betriebliche Ausbildung ist näher an den Bedarfen des Arbeitsmarktes, bietet jungen Menschen in der Regel bessere Chancen zur Integration in den Beruf und ist deswegen zu bevorzugen. Außerdem sind öffentlich finanzierte Plätze teurer. Der Bund müsste ein Sonderprogramm Ausbildung auflegen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen