„Wir empfehlen Senator Geisel eine Dienstreise nach Kopenhagen“

Das bleibt von der Woche Sänger Achim Mentzel ist gestorben, eine Initiative für ein Volksbegehren Fahrrad wurde aus der Taufe gehoben, die Einschulungsdaten legen nahe, dass Kinder aus Familien der „unteren sozialen Statusgruppe“ schlechtere Zähne als ihre besser situierten Altersgenossen haben, und die Grünen fordern, die Sanierung von maroden Schulen nicht länger den Bezirken zu überlassen – sondern zentral zu steuern

Immer echt geblieben

Achim Mentzel ist tot

Er wollte lieber als Schlagerstimmungskanone die Narrenfreiheit genießen

Am Montag starb Achim Mentzel in seinem Haus bei Cottbus. In den Nachrufen wurde – zu Recht – nur Gutes über ihn geschrieben. Dass er zwar bedenkliche Schunkelmusik machte, aber selbst dabei immer echt blieb und seine dauergute Laune nie aufgesetzt war. Ja, dass er sogar echte Selbstironie zeigte. Wie sonst hätte Oliver Kalkofe, der den „Zonenzausel“ als Schreckensgesicht der MDR-Volkstümelei nach der Wende bespöttelte, alsbald Freundschaft mit ihm geschlossen?

Weil das ostdeutsche Unterhaltungsfossil auch ein uriger Anekdotenonkel mit einer verwegenen Vergangenheit als Rock ’n’ Roller war, wurde er ein gern gesehener Gast im Talk-TV. Da erzählte er, wie er als Arbeiterkind aus Prenzlauer Berg in den Sechzigern zum berüchtigsten Rock ’n’ Roller Ostberlins wurde, der mit seinem Dia­na Show Quartett die Tanzsäle zum Beben brachte. Bis die SED 1965 Schluss machte mit dem „Yeah, yeah, yeah“. Oder wie er 1973 bei einem Auftritt in Westberlin spontan „Republikflucht“ beging, weil er zu Hause gerade Ärger wegen seiner Fremdgeherei hatte, kurz darauf jedoch reuevoll zu Frau und Kindern zurückkehrte. Oder von seinen crazy Shows mit Nina Hagen in Fritzens Dampferband – bis Nina in den Westen abwanderte und er in die DDR-Schlagerszene, weil er null Bock auf verquasten Lyrikrock hatte. Dann lieber als Stimmungskanone die Narrenfreiheit genießen.

Was er selten erwähnte: dass er beinahe kein Musiker geworden wäre, sondern Fußballer. Bis zur Ostberliner Juniorenauswahl hatte er es geschafft. Letztlich hörte Mentzel auf die Eltern: „Als Musikant fährste besser.“ Das erzählte er mir bei der Recherche für ein Büchlein über Fußball und Musik. Als es fertig war, fragte ich ihn, ob er nicht Lust hätte auf ein paar kleine Leseshows samt Talk über sein verrücktes Leben. Er war sofort dabei.

Eine Leseshow endete als klischeehafter Flop. Bedingt durch spontanes Umdisponieren des Veranstalters, traten wir in einem Cottbuser Einkaufszentrum auf, just während eines WM-Spiels 2010. Ich zeigte Dias, Achim erzählte Anekdoten und blies am Ende in eine Vuvuzela vor verdutzten Leuten mit Einkaufswagen. Es war skurril, niederschmetternd – und trotzdem toll. Achim hatte die absehbar peinliche Chose nicht nur nicht abgeblasen, sondern seine gute Laune behalten. Das bleibt in meiner Erinnerung.

Weiterleben wird er zudem als Vorsänger der Hymne „Stimmung in der Alten Försterei“ bei Union-Spielen und natürlich in der inoffiziellen Bran­den­burg­hym­ne von Rainald Grebe, in der er das Autohaus in Schwedt nicht findet. Was nicht stimmte, selbstverständlich hat er auch dort gesungen. Gunnar Leue

Endlich auf die Räder kommen

Volksbegehren fahrRAD

Wie weit ist Kopenhagen von Berlin entfernt: 438,5 Kilometer – oder Lichtjahre?

Wer würde sich solche Fahrradenthusiasten in der Politik nicht wünschen? Auf die Frage, wie die Kopenhagener im Winter zur Arbeit kommen sollen, antwortete der Umweltstadtrat der dänischen Hauptstadt in einem Interview: „Mit dem Rad.“ Er habe schließlich entschieden, dass morgens zuerst die Radwege geräumt werden und erst danach die Straßen. „Die Autofahrer bekommen das natürlich mit – und so ist es auch gedacht.“

Und nun schließen wir kurz die Augen, denken an den Schnee, der endlich fiel, und fragen uns, wenn wir die Augen wieder öffnen und auf Straßen und Radwege schauen, wie weit Kopenhagen von Berlin eigentlich entfernt ist. 438,5 Kilometer? Oder Lichtjahre?

Heinrich Strößenreuther möchte diese Entfernung verkürzen. Oder am besten ganz aufheben. Kopenhagen nach Berlin holen. Am Dienstag hat der Radfahr-Aktivist und Unternehmensberater vor Richtern und Ingenieuren gesprochen und erklärt, warum er eine Initiative zu einem Volksbegehren Fahrrad aus der Taufe gehoben hat.

Ab April sollen die Berlinerinnen und Berliner darüber abstimmen dürfen, ob sie fünf Meter breite Fahrradstraßen wollen, asphaltierte Radwege an den Hauptstraßen sowie 200.000 Stellplätze. Natürlich auch grüne Wellen an Ampeln. Von der Vorfahrt der Radwege beim Schneeräumen war allerdings noch nichts von der Ini­tiative zu hören.

Aber das ist auch egal. Denn egal, mit welchen Forderungen Heinrich Strößenreuther s­einen Gesetzentwurf spickt, die Sympathien werden ihm zufliegen. So schnell wie das Fahrradbegehren wird noch keiner die nötigen 20.000 Unterschriften zusammenhaben. Vorausgesetzt natürlich, die Initiative agiert ähnlich seriös und professionell wie etwa 100 % Tempelhof.

Umso erstaunlicher ist es, dass Verkehrssenator Andreas Geisel (SPD) sich bereits – ohne Not – gegen den Entscheid gestellt hat. „Zu radikal“, sagte der Senator. Wir empfehlen eine Dienstreise nach Kopenhagen.

Uwe Rada

Chance für eine Aufholjagd

Report Einschulungsdaten

Kita hat einen ähnlichen Einfluss auf das Sprachvermögen wie die soziale Schicht

Das typische Berliner Pro­blem­kind muss man sich wohl in etwa so vorstellen wie diesen moppeligen, fiesen Stiefbruder Dudley Dursley aus den „Harry Potter“-Büchern. Kinder aus Familien der „unteren sozialen Statusgruppe“, hält die Senatsverwaltung für Gesundheit in ihrer am Dienstag veröffentlichten, jährlichen Auswertung der Berliner Einschulungsdaten fest, haben schlechtere Zähne als ihre besser situierten Altersgenossen. Außerdem sind sie häufiger zu dick und haben zu allem Überfluss auch weniger Vokabeln zur Hand, mit der sie ihre Mutter um den nächsten Schokoriegel bitten können.

Puh. Zum Glück weiß man ja aber auch schon seit Längerem, wie man die Ungerechtigkeiten der Klassengesellschaft – zumindest ein Stück weit – wieder ausbügeln kann: Dudley Dursley muss in die Kita. Zwei Kita­jahre haben einen ähnlichen Einfluss auf das Sprachvermögen wie die soziale Schicht, legt der Datenreport nahe. Und das ist viel: Über die Hälfte der Kinder aus ärmeren Familien hat demnach ein Sprachdefizit, aber nicht einmal jedes zehnte Kind aus der „oberen Statusschicht“.

Nun ist leider die Kitaquote bei den Kindern der „unteren Statusschicht“ aber immer noch unterdurchschnittlich: Nur 72 Prozent gehen länger als zwei Jahre in die Kita. Insgesamt werden berlinweit rund 95 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen in Kitas betreut.

Was uns das sagen soll? Die Koalition könnte daran ablesen, dass sie irrt, wenn sie meint, mit der kostenlosen Kita ab dem ersten Lebensjahr – die Rot-Schwarz vor Weihnachten noch fix beschlossen hat – benachteiligte Familien zum möglichst zeitigen Kitabesuch zu bewegen. Schon jetzt könnten sie ihre Kinder schließlich kostenfrei länger als zwei Jahre in einer Kita anmelden: Ab drei Jahren ist die Fremdbetreuung in Berlin bekanntlich beitragsfrei.

Die Chance zur Aufholjagd für benachteiligte Kinder liegt an anderer Stelle. Weil der Senat zum kommenden Schuljahr die Früheinschulung wieder abgeschafft hat, wird sich die Kita-Zeit für viele ganz automatisch um ein Jahr verlängern. Gerade den Dursleys wird das zu Gute kommen. Schade nur, dass die 4.000 Kitaplätze und die zusätzlichen ErzieherInnen, die es dafür laut dem ebenfalls diese Woche vorgelegten Gesetzentwurf der Senatsbildungsverwaltung braucht, nicht in den Haushaltsverhandlungen berücksichtigt wurden. Die sind nämlich jetzt abgeschlossen. Warum man das vergessen hat und woher die 60 Millionen jetzt kommen sollen? Das zu erklären fehlten dem Senat bisher leider die Vokabeln. Anna Klöpper

Wider noch mehr Bürgerferne

Zentrale Schulsanierung

Es mag stimmen, dass in besonderen Fällen zentrale Steuerung Vorteile hat

Weg mit der auf Bezirk und Land aufgeteilten Berliner Verwaltung, alle Macht in die Zentrale, dann wird es schon werden, egal ob wirtschaftlich oder in Sachen Bürgerfreundlichkeit. Das ist im Kern die Botschaft, die vor allem die Industrie- und Handelskammer seit Jahren unter die Leute zu bringen versucht. Auftrieb haben solche Bestrebungen dadurch erhalten, dass der Senat große Bauprojekte an sich gezogen hat. Auch die am Dienstag aufgestellte Forderung der Grünen, die Sanierung von Berlins maroden Schulen nicht länger den Bezirken zu überlassen, sondern zentral zu steuern, geht in diese Richtung.

Forderungen dieser Art fallen meist leicht, sie entsprechen dem Wunsch vieler nach einem fähigen Macher oder einer ebenso fähigen Macherin statt vieler Rumwursteler. Es mag sogar stimmen, dass in besonderen Fällen zentrale Steuerung Vorteile hat.

Doch wie lässt sich bestimmen, was wer wirklich besser kann? Was liegt an der zweistufigen Struktur und was an den Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihr arbeiten? Was liegt vor allem daran, wie viele Mitarbeiter die Bezirke überhaupt für ihre Aufgaben zur Verfügung haben? Vom Deutschen Gewerkschaftsbund war Donnerstag erneut die Kritik zu hören, Personaleinsparungen seien eher bei den bürgernahen Dienstleistungen und weniger in den Tiefen der Verwaltung passiert.

Geografischer Fakt ist: Je mehr Macht zu den vornehmlich in der Innenstadt angesiedelten Senatsverwaltungen wandert, umso größer ist die Distanz zwischen Entscheiderschreibtisch und dem eigentlichen Ort des Geschehens. Dabei ist Berlin in dieser Hinsicht ohnehin unterversorgt. Eine Stadt wie Dortmund etwa hat mit 580.000 Bürgern kaum mehr Einwohner als zwei Berliner Bezirke zusammen. Doch dort gibt es unterhalb des Rats der Stadt, also des Stadtparlaments, für jeden der zwölf Stadtbezirke eine gewählte Bezirksvertretung – also ein eigenes Parlament für jeweils weniger als 50.000 Menschen. Für jeden Stadtbezirk gibt es zudem eine eigene Bezirksverwaltungsstelle, in der sich etwa Pässe beantragen oder Autos anmelden lassen.

In Berlin ist stattdessen ein – allerdings mehr als doppelt so großes – Bezirksparlament für 250.000 bis 300.000 Menschen zuständig. Weitere Macht auf die Landesebene zu verschieben hieße, diese Bürgerferne im Vergleich zu Dortmund noch zu vergrößern. Das kann in einer Zeit, in der Mitbestimmung mehr und mehr gefragt ist, kein Ziel sein.

Fazit: Es kann sinnvoll sein, kriselnde Bereiche wie die Schulsanierung für eine bestimmte Zeit zentral zu regeln – nämlich genauso lange, wie es dauert, die Bezirke selbst wieder fit für diese Aufgaben zu machen. Stefan Alberti