Berliner Szenen
: Im Noodle House

Grotte mit Wänden

Auf dem Grundbefindet sich ein Brunnen aus Blut

Wir saßen in Lon Men’s Noodle House in der Kantstraße und aßen Schweineohren. Mit viel Chili war ihre knorpelige Konsistenz erträglich. Durch die vom Küchendunst beschlagenen Scheiben war nicht viel zu erkennen. Ab und zu drangen Stimmen von außen zu uns herein. 2016 hatte gerade begonnen, aber wir waren noch nicht da angekommen.

Der richtige Moment, einander Träume zu erzählen oder über Dinge zu sprechen, die uns beschäftigten, die jedoch nicht ganz von dieser Welt waren. Die Vorstellung, bei Bewusstsein am Gehirn operiert zu werden, zum Beispiel. Für die New York Times war der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård nach Tirana gereist und hatte dort dem britischen Neurochirurgen Henry Marsh bei so einer Operation zugesehen. Beim Dinner am Abend vor der OP hatte Marsh, der in Oxford zunächst Philosophie und Politik studiert hatte, zu dem Gast über seine Ängste gesprochen und gesagt, er sei eigentlich ein Feigling. Dem feinnervigen Schriftsteller waren die Hände des Chirurgen aufgefallen, auch sein immer wieder nach innen gewandter Blick. Wem oder was begegnete Marsh da drinnen? Etwas, das ihm nicht behagte, fand Knausgård im Schein der Gläser und des weißen Tischzeugs, der durch die undurchdringliche Nacht vor den Fenstern noch intensiviert wurde, wie er schrieb. Während des Eingriffs anderntags ließ der Arzt den Autor durch sein Mikroskop schauen. Der Schriftsteller blickte in eine Grotte mit lebendigen Wänden, auf deren Grund sich ein Brunnen aus Blut befand. Als er aufsah, wurde ihm klar, dass er in das Gehirn eines Menschen geschaut hatte, der wach und mit ihm im selben Raum war.

Jenseits davon war ein noch viel größerer Raum unter einem blauen Himmel. All diese Räume zusammen befanden sich in seinem eigenen Gehirn. Sascha Josuweit