Arbeiten mit "Restleistungsvermögen"

GESUNDHEIT Sachverständigenrat schlägt für Langzeitkranke ein "Teilkrankengeld" vor und erntet Protest

Teilzeitarbeit als Ausweg aus der Spirale der Depression? Foto: dpa

BERLIN taz | Selten sorgte ein Vorschlag des Sachverständigenrats Gesundheit für so viel Kritik. Als „kontraproduktiv“ rügt ihn die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Die Grünen warnen vor unzumutbaren Kürzungen beim Krankengeld.

Der Sachverständigenrat hatte vorgeschlagen, dass Arbeitnehmer künftig auf Wunsch auch nur „teilweise“ krankgeschrieben werden dürfen. Dabei erhielten sie in den ersten sechs Wochen ihrer Krankheit die volle Lohnfortzahlung, tauchten aber nur einige Stunden am Tag im Betrieb auf, je nach „Restleistungsvermögen“. Halte der Zustand an, könnten sie weiter in Teilzeit arbeiten und bekämen den Teilzeitlohn vom Arbeitgeber plus einer Aufstockung durch ein „Teilkrankengeld“ von der Krankenkasse. Dies sollte „ausschließlich im Ein­vernehmen zwischen Arzt und betroffenem Arbeitnehmer erfolgen“, so der Sachverständigenrat.

Die Gutachter verweisen mit ihrem Vorschlag auf Schweden, wo bei Langzeitkranken schon nach wenigen Monaten ein „Teilkrankengeld“ möglich ist. Doch nicht nur bei Gewerkschaften und Grünen, auch in den sozialen Medien regte sich sofort Widerstand. „Was soll der Käse? Entweder ich bin krank oder nicht!“, so der Tenor der Proteste.

Der Vorschlag zielt unter anderem auf Langzeitkranke mit Depression. Da sehen Experten durchaus Vorteile in einer frühzeitigen Teilzeitarbeit. „Es kann therapeutisch sinnvoll sein, erst mal stundenweise im Betrieb zu arbeiten und dann Schritt für Schritt ganz zurückzukehren“, sagt Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin. „Wenn allerdings das primäre Motiv des Vorschlags darin besteht, Geld zu sparen, muss man skeptisch sein.“

In Deutschland bekommen Kranke nach einer sechswöchigen Phase der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber bislang das Krankengeld von der Krankenkasse. Das beträgt 70 Prozent des Bruttoverdienstes und wird bis zu einer Dauer von 78 Wochen gezahlt. Depressive beziehen das Krankengeld besonders häufig bis zur Höchstdauer und landen danach oft in der Erwerbsunfähigkeit.

Es gibt bisher zwar auch schon Rückkehrmodelle wie das „Hamburger Modell“, mit dem die Langzeitkranken Krankengeld erhalten und gleichzeitig stundenweise wieder beim Arbeitgeber anfangen zu arbeiten. Doch eine zusätzliche, flexible Rückkehrmöglichkeit wie etwa durch ein Teilkrankengeld „könnte sinnvoll sein“, sagt Bschor.

Sind Depressive erst mal ein Jahr aus dem Job heraus, sinkt die Wahrscheinlichkeit rapide ab, dass sie jemals wieder anfangen zu arbeiten; das zeigen Erhebungen. Gehen sie dann in die Frührente, müssen sie sich nicht selten bald wieder in einer Klinik in psychiatrische Behandlung begeben. Denn nichts zu tun und keine Tagesstruktur zu haben kann einen depressiven Menschen erst recht fertig machen.

Als Reaktion auf das Gutachten des Sachverständigenrates fordert Annelie Buntenbach, Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), den Vorschlag „vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Sie bemängelt die Versorgungsstruktur, nach der zu wenige Ärzte und Psychotherapeuten zur Verfügung stehen. Auch müsste es eine Verpflichtung der Arbeitgeber geben, an stufenweisen Wiedereingliederungen teilzunehmen. Die Teilnahme am bereits existierenden „Hamburger Modell“ ist für die Betriebe derzeit ­freiwillig. Barbara Dribbusch