Last Exit Oberschenkelhalsbruch
: Synonym für verlogen

Liebling der Massen

Uli Hannemann

Es ist Montagabend. Ich liege auf dem Fußballplatz und warte darauf, dass der Schmerz nachlässt. An dem reibeisenartigen Belag des Kunstrasenplatzes habe ich mir das Knie an derselben Stelle wie vor drei Tagen aufgeschürft. Die fing gerade erst an zu heilen. Nun kann man durch den Blutmatsch hindurch die einzelnen Hautschichten zählen, unterscheiden und benennen, wie beim Mikroskopieren einer Zwiebel im Biologieunterricht. Das zweite Mal tut immer ganz besonders weh.

Ja, wenn ich noch ein junger Bursche von 48 oder 49 Jahren wäre, würde ich meinen Tränen nun wohl ohne jede Scheu freien Lauf lassen. Doch mit 50 kann man so was echt nicht mehr bringen. Also stoße ich nur zischend die Luft aus. Besorgt blicken mich die jüngeren und talentierteren Mitspieler an. Jedes meiner undefinierbaren Geräusche ist für sie ein Alarmsignal. Was kommt bei diesem wunderlichen Alten wohl als nächstes: Herzinfarkt, Schlaganfall oder geht ihm einfach bloß die Luft aus?

Jeder weiß es: Ich bin viel zu alt für den Scheiß. Diese Erkenntnis habe ich auf anderen Gebieten längst gewonnen – warum bloß nicht hier? Was will ich mir denn beweisen? Dass ein Bierbrunnen stets auch ein Jungbrunnen ist? Dass man auf dem Felde der Ehre auch an aufgeschürften Knien verbluten kann? Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist: Den Zeitpunkt habe ich schon vor Jahren verpasst. Ich muss höllisch achtgeben, dass ich nicht mehr so oft hinfalle. Ich komm ja von alleine nur noch schlecht wieder hoch und liege dann meist minutenlang, wie ein Käfer hilflos mit den Beinchen strampelnd, auf dem Rücken. Zum Glück ist Fußball ein Mannschaftssport und die Jungs, die ich früher meine Mitspieler nannte, sind mittlerweile meine Zivis. Wenn sie sehen, dass ich unglücklich gestürzt bin, unterbrechen sie ihr Spiel und helfen mir auf. In der Zeit nehmen sie durchaus auch das eine oder andere Gegentor in Kauf. Sie setzen mir das am Boden liegende Gebiss ein, erinnern mich daran, dass ich „linker Verteidiger“ sei, oder eine ähnlich interessant und zugleich unnütz klingende Position innehätte. Sie schieben mich an die entsprechende Stelle des Spielfelds und warten kurz, um sicherzugehen, dass ich stabil und eigenständig stehen kann. Wie ein Duracel-Häschen klappere ich fröhlich weiter, bis das nächste Hindernis, in Form zum Beispiel einer zu dick gezogenen Seitenlinie, auftaucht.

Große Angst habe ich bei jedem Sturz natürlich vor dem legendären Oberschenkelhalsbruch: dem größten Feind des alten Menschen, noch vor Radfahrer, Rentenbescheid und Dingen, die er nicht kennt. Der Last Exit Oberschenkelhalsbruch führt nicht selten über die Standspur Geriatrie hin auf den Rastplatz der letzten Ruhe. In den ersten Monaten lässt sich noch ab und zu ein Mitspieler blicken und bringt mir kernlose Weintrauben. Doch irgendwann hören auch die Besuche auf. Montags ist immer noch Fußball. Den gucke ich vom Krankenbett aus im Fernsehen. zweite Liga. Keinesfalls will ich ins Sterbehospiz verlegt werden. Dort soll es immer Streit um die Fernbedienung geben.

Auf der verzweifelten Suche

Manch einer denkt vielleicht: „Was labert dieser leidlich rüstige Alte? Der wirkt doch kaum älter als er ist.“ Natürlich provoziere ich solche Einwände auf der verzweifelten Suche nach einem Kompliment. Das ist eitel und verlogen, aber nur zu menschlich. Menschlich ist nun mal ein Synonym für eitel und verlogen. Die selbsternannte Krone der Schöpfung nutzt ihre hochentwickelten Kommunikationstechniken fast nur dazu, Artgenossen arglistig zu täuschen. Solche Fähigkeiten kann man also getrost in die Biotonne treten. Lügt denn der Wolf, wenn er heult; die Biene, wenn sie tanzt; das Pferd, wenn es vor die Apotheke kotzt? Nein. Das tut nur der Mensch. Jede Mikrobe kommuniziert auf ihre primitive Weise zuverlässiger und damit besser.

Allerdings ist in meinem Fall die Koketterie von der Realität schon lange rechts überholt worden. Die Statistik lügt nicht: zwei Prozent gewonnene Zweikämpfe, 0,012 zurückgelegte Kilometer, eine Passquote von 5 Prozent, null Torschüsse und eine gelbe Karte für wiederholte Spielverzögerung, als meine beiden Sprintversuche gewertet wurden. Und dann bin ich am Ende auch noch umgefallen.