„Die EU ist viel sozialer als ihr Ruf“

Heute treffen sich die Regierungschefs zum EU-Gipfel in Hampton Court. Doch solange die Kommission unter Barroso nur nach der Pfeife der drei großen EU-Staaten tanzt, wird sich nichts Entscheidendes bewegen

taz: Herr Maurer, die EU hat sich eine Denkpause verordnet. Auch die Regierungschefs treffen sich heute in Hampton Court zum Nachdenken. Ist es das, was Europa jetzt braucht – Denkzirkel hinter verschlossenen Türen?

Andreas Maurer: Man kann über die Zukunft des Verfassungsvertrags und der Union nicht ernsthaft nachdenken, wenn nicht klar ist, worauf man hinauswill. Es fehlt die klare Ansage der Staats- und Regierungschefs, ob und wann man den Verfassungsvertrag wieder auf den Tisch legen will. Dazu kommt die britische Grundsatzkritik. Aus britischer Sicht beantwortet der Verfassungsentwurf nicht die Frage, welches Wirtschafts- und Sozialmodell Europa sich verordnen will.

Kann es dazu in Hampton Court einen kleinsten gemeinsamen Nenner geben? Europa ist in dieser Frage derzeit doch tief gespalten.

In Deutschland ist ja oft zu hören, wir sollten uns am nordischen Modell orientieren. Wenn man allein die Unterschiede zwischen Schweden und Finnland in der Sozialpolitik mal näher betrachtet, sieht man schnell, dass es selbst unter den nordischen Staaten keinen Konsens darüber gibt. Wir werden in der EU auch weiterhin mit zwei großen Linien in der Sozialpolitik leben müssen.

Also sollte die Frage auf europäischer Ebene ausgeklammert werden?

Schon im derzeit geltenden EG-Vertrag werden, an vielen Stellen versteckt, soziale Maßstäbe gesetzt. Verglichen mit den sozialpolitischen Vorschriften in den Verfassungen vieler Mitgliedsstaaten ist die EU da sehr fortschrittlich.

Zum Beispiel?

Der ganze Bereich der Antidiskriminierungspolitik. Das deutsche Grundgesetz geht längst nicht so weit. Dass es den Bürgern nicht deutlich wird, liegt nicht an der Untätigkeit der EU in dieser Frage. Es liegt daran, dass mitgliedsstaatliche Regierungen kein Interesse daran haben, den Mehrwert der EU in diesem Bereich herauszustellen.

Welche Rolle spielt die Kommission derzeit?

Sie nimmt ihre Rolle als Initiativorgan nicht wahr. Die Kommission lässt sich die Tagesordnung von den drei großen Hauptstädten diktieren – das war unter Prodi schon so und ist unter Barroso noch schlimmer geworden.

So macht sich die Kommission selber überflüssig?

Barroso gibt den Ersten Sekretär der Mitgliedsstaaten. Von Tony Blair stammt der Vorschlag, die Kommission zum Sekretariat des Ministerrates zu machen. Das passt auch den Franzosen, die ursprünglich einen ständigen Präsidenten für den Ministerrat wollten. Barroso ist ein Premierminister nach dem Muster der Fünften Republik – ein Erfüllungsgehilfe. Die kleinen Länder werden das auf die Dauer nicht mitmachen. Wenn ein Land wie Luxemburg oder Malta Nein sagt, ist jedes Projekt gestorben.

Derzeit ist von den drei Großen ja wohl nur London aktiv. Frankreich schielt auf die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr, und Deutschland steckt in den Koalitionsverhandlungen.

Hinter den Kulissen sind die Vorbereitungen auf die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 längst intensiv angelaufen. Man kann davon ausgehen, dass unter österreichischer Präsidentschaft bis zum kommenden Sommer die Finanzplanung bis 2013 abgeschlossen wird. Danach müssen die Finnen und die Deutschen den Kompromiss in fast fünfzig Verordnungen umsetzen.

Kommissionspräsident Barroso will als neues Instrument einen Globalisierungsfonds einführen. Kann man den auch schon vorplanen?

Ich bin ja sehr gespannt, wie das bei den Mitgliedsstaaten ankommt. Damit schießt die Kommission doch ein Eigentor. Einerseits wollen sie die neuen Herausforderungen offensiv angehen. Und dann lassen sie sich mit dem neuen Fonds auf die französische Logik ein, dass Globalisierung doch eine schlimme Sache ist. Chirac und Attac haben also im Prinzip doch Recht, jedenfalls ein bisschen. Das ist Populismus, es widerspricht der gesamten Kommissionsstrategie der Marktöffnung und Dienstleistungsfreiheit.

Bringt denn Verheugens Entrümpelungskampagne, mit der die europäische Bürokratie gezähmt werden soll, die Union voran?

Das hat es in den 90er-Jahren schon mal gegeben. Die Bayern wären gern das Umweltrecht losgeworden. Großbritannien hätte am liebsten die ganzen Sozialvorschriften gestrichen. Aber darüber gab es natürlich keinen Konsens Als Ergebnis wurde schließlich die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Überführung von Leichen gestrichen … Die überbordende EU-Gesetzgebung ist doch ohnehin ein Mythos. Es gibt weniger als 200 Rechtsakte pro Jahr, die Hälfte davon Routine wie technische Standards oder neue Quoten in der Agrarpolitik. Der Bundestag produziert viel mehr Gesetze.

Gibt es denn etwas Aufbauendes, was Sie uns über die EU sagen können?

Intern ist bereits klar, wie der finanzielle Kompromiss für die Agenda 2007 aussehen kann. Es bleibt bei dem, was im Juni ausgehandelt wurde. Die Briten lassen über den Rabatt mit sich reden, im Gegenzug wird 2009 die gemeinsame Agrarpolitik überarbeitet. In Brüssel gilt diese Lösung als sehr wahrscheinlich.

Na gut. Es geht also finanziell irgendwie weiter. Eine europäische Inspiration ist das nicht gerade.

Mit der Achse Deutschland–Frankreich ist derzeit kein Blumentopf zu gewinnen. Die neue deutsche Regierung wird ihre Fühler in Richtung Italien oder Spanien ausstrecken müssen. Eine Chance liegt in Angela Merkels Ankündigung, die kleinen Staaten mehr einzubinden. Der amtierende deutsche Außenminister war während seiner Amtszeit nicht ein einziges Mal in Den Haag. Die Kleinen haben zu Recht Angst, dass sie in der EU überfahren werden. Man sollte mehr auf regionale Projekte setzen. Zum Beispiel könnte Deutschland gemeinsam mit den baltischen Staaten und Polen das Problem russischer Öltanker in der Ostsee angehen. Mittelfristig könnten die Ostsee-Anrainer den Umstieg auf zweiwändige Tankschiffe finanzieren. Das wäre ein bürgernahes Projekt und würde zeigen, dass es auch mal ohne die Franzosen oder die Briten geht. Und es könnte ein Modell sein für Probleme, die im Mittelmeerraum anstehen. INTERVIEW:
DANIELA WEINGÄRTNER