„Heute brauchen mehr Kinder eine Therapie“

Reinhild Ferber vom Deutschen Verband der Ergotherapeuten sieht frühe Therapie als Grundlage erfolgreicher Bildung

taz: Frau Ferber, eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass immer mehr Kinder in der Ergotherapie landen – und nicht unbedingt dorthin gehören. Sehen Sie dieses Problem?

Reinhild Ferber: Heute haben viel mehr Kinder Behandlungsbedarf als früher. Früher wurden viele Probleme in der Familie, in der es vielleicht vier Kinder gab, geregelt, die familiäre Struktur half dabei. Heute gibt es diese Struktur häufig nicht. Die Kinder benötigen Hilfe und kommen in die Therapie. Besonders im Alter zwischen 5 und 7 stehen die Kinder an einer ganz wichtigen Schwelle, sie müssen in der Schule vieles erstmals können und über einen langen Zeitraum Regeln beachten. Das ist für viele neu und für manche eine Überforderung. Dann fallen sie auf.

Sind Kinder aus bildungsfernen Familien stärker betroffen?

Viele dieser Eltern sind aus verschiedensten Gründen damit überfordert, ihre Kinder ausreichend zu fördern. Aber diese Kinder kommen nicht in großer Zahl in unsere Praxen. Viele ihrer Eltern würden das auch gar nicht durchhalten, denn Ergotherapie ist anstrengend.

Wer ist dann Ihre Klientel?

Meist sind es Kinder aus der Mittelschicht, viele von ihnen sind unruhig, reizüberflutet, ihnen fehlen Strukturen. Diese Kinder können sich schwer auf das Wichtige konzentrieren: auf das Zuhören bei einer Geschichte, das Schreiben mit dem Stift oder das Regelspiel mit einem Freund.

Kritiker sagen, da perfektionieren Eltern ihren Nachwuchs. Zumindest ein Teil der Kinder habe in der Therapie nichts zu suchen.

Das sehe ich anders. Wir sind ein Land, das hoch qualifizierte Fachkräfte braucht. Das kann man nur mit einem guten Bildungsabschluss erreichen, und daher ist es erforderlich, alles, was nur möglich ist, aus jedem einzelnen Kind herauszuholen.

Aber dafür ist der Medizinbetrieb doch nicht zuständig.

Die Ergotherapie schon. Vielleicht muss sie aber nicht in jedem Fall von den Krankenkassen finanziert werden. In Kanada gibt es an an jeder Schule eine Ergotherapeutin, die mit den Kindern arbeitet, das ist völlig normal.

Hier zahlt die Krankenkasse die Ergotherapie – und kürzt am anderen Ende Leistungen.

Klar ist, wir helfen diesen Kindern mit unserer Therapie. Und ein anderes Finanzierungssystem haben wir derzeit nicht.

Es gibt keine wissenschaftlichen Studien über die Wirkung von Ergotherapien. Warum?

Das liegt vor allem daran, dass wir eine persönliche Leistung erbringen, die nicht normierbar und damit sehr schwer zu messen ist. INTERVIEW:
SABINE AM ORDE