Der Geist der Schlussminuten

Serie (1) Europas Überraschungsteams: Wie der Fußballklub SCO Angers aus Frankreichs Nordwesten in die Ligue 1 aufgestiegen ist und sich dort auf Platz drei gekickt hat

Luftkampf: Angers’ Pierrick Capelle gewinnt das Duell um den Ball gegen Saint-Etiennes Kevin Malcuit Foto: ap

aus Paris Rudolf Balmer

In der französischen Fußballmeisterschaft steht der Sieger praktisch schon fest. Vor der Weihnachtspause, die hier humorvoll und mit Sinn für die gastronomische Seite der Festtage „trêve des pâtissiers“ (Waffenstillstand der Konditoren) genannt wird, hat sich der Tabellenerste Paris Saint-Germain (PSG) bereits uneinholbar abgesetzt. Mit 16 Siegen und 3 Unentschieden ist PSG bisher ungeschlagen und liegt mit 19 Punkten vor dem Zweiten, AS Monaco.

Wenn es in dieser Meisterschaft aber bisher dennoch eine echte Überraschung gab, dann war es der diesjährige Newcomer in der obersten Liga, Angers SCO. Selbst interessierte Fußballfans in Frankreich staunen. Viele von ihnen könnten nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, wo Angers eigentlich liegt. Auf der Landkarte findet man diese Provinzstadt, die immerhin 150.000 Einwohner zählt, etwa 90 Kilometer östlich von ­Nantes am Lauf der Loire. Bescheidene 20 Millionen Euro beträgt das Jahresbudget des westfranzösischen Klubs. Neben anderen Profiteams aus der Provinz wie Ajaccio und Troyes zählt Angers im Vergleich zu den finanziellen Mitteln der beiden Spitzenteams aus Paris und Monaco (490 Millionen beziehungsweise 250 Millionen Euro) beinahe schon zu den Sozialhilfeberechtigten.

Während aber Troyes, das über exakt denselben Etat verfügt wie Angers, noch kein einziges Spiel gewonnen hat und bereits hoffnungslos abgeschlagen als designierter Absteiger am Tabellenende liegt, lehrt der „Sporting Club de l’Ouest“ (SCO) aus Angers den Eliteklubs das Fürchten. Klubs wie Montpellier, Marseille, Toulouse, Lille und Lyon, die sonst eher um die Führung an der Tabellenspitze kämpfen, wurden nacheinander von Angers besiegt und liegen zur Halbzeit der Saison alle klar hinter dem SCO zurück.

Bezeichnenderweise hatte Angers am meisten Mühe mit Klubs, die wie etwa Rennes und Saint-Etienne eine ähnliche, auf dem Teamgeist beruhende Fußballphilosophie haben. Um den Erfolg des Angers SCO zu verstehen, muss man in der französischen Fußballgeschichte nur eine Seite zurückblättern. Im Jahr 2013/14 nämlich schaffte diese Mannschaft den Aufstieg mit einem besonders bemerkenswerten Kampfgeist. Sie machte sich einem Namen damit, Spiele in den letzten Minuten, oft mit einem entscheidenden Tor in der vom Schiedsrichter gewährten Zusatzzeit für sich zu entscheiden, während die Gegner geistig bereits in der Umkleideräume waren. Genau mit diesem Geist, gepaart mit der Not, in jedem Match das Beste geben zu müssen, nimmt der Klub die Herausforderung an, in der Ligue 1 zu spielen.

Das Ziel war es ursprünglich, den Abstieg zu vermeiden. Jetzt aber rückt ein Platz unter den ersten drei in greifbare Nähe, vorausgesetzt, den Spielern steigen die Komplimente der Sportpresse nicht zu Kopf. Der Verteidiger Romain Thomas weiß um die Risiken: „Die Älteren unter uns geben (den Jüngeren) die Botschaft weiter: Wir sitzen alle im selben Boot, beim SCO gibt es keine Stars. Was zählt, das ist die Mannschaft. Keiner soll meinen, er sei etwas Besseres als die anderen. Mit dieser Einstellung ist es uns gelungen, den Schwung der letzten Saison zu behalten.“

Während andere kurz vor Schluss schon abschalten, macht Angers noch mal richtig Dampf

Auch die Klubleitung hat ihren Anteil am bisherigen Erfolg. Das Gebot der Solidarität unter den Spielern gilt auch für den algerischen Klubpräsidenten Saïd Chabane, den sportlichen Leiter Olivier Pickeu und den Trainer Stéphane Moulin, der schon als Spieler in Angers groß geworden ist. Da er auf dem Markt der Berufsspieler keine enormen Summen für internationale Stars anbieten konnte, hat Sportdirektor Pickeu bei einigen Transfers großes Gespür für echte Verstärkungen zum günstigsten Preis bewiesen.

Das beste Beispiel dafür ist der neue Mittelfeldspieler Cheikh N’Doye. Dieser 29-jährige Koloss (1,90 Meter, 90 Kilo) aus Senegal ist eine der Entdeckungen dieser Saison. Er gehört zwar zum Kader der senegalesischen Nationalmannschaft, spielte in Frankreich aber zuletzt im Zweitligaklub US Créteil. Heute ist er einer der Torjäger von Angers. Schon stellt sich die Frage, ob er bis zum Ende seines Vertrags in Angers bleiben wird.

Trainer Moulin ist bekannt dafür, dass er sich auch rührend um seine Spieler kümmert, damit sie sich in dieser kohärenten Mannschaft gut fühlen. Auch Klubpräsident Chabane will nach der positiven Bilanz der ersten 19 Spiele nicht prahlen: „Je weniger man uns beachtet, desto besser ist das für uns.“ Doch diese demonstrative Bescheidenheit verbietet es ihm nicht, große Ambitionen für seine Mannschaft zu hegen.

Demnächst werden in dieser Serie auch die Erfolgsgeschichten von Leicester City, Celta de Vigo und FK Rostow erzählt