Um die Welt mit drei Bibliotheken

LITERATUR-REISE Die Bremer Dokumentarfilmerin Beatrix Schwehm erzählt in „Erlesene Welten“ von drei mobilen Bibliotheken in Bangladesh, Kenia und der Mongolei

Der Film ist voll von Momenten, die deutlich machen, wie das Lesen ein Leben ermöglicht, das sicherer, freier und reicher ist

VON WILFRIED HIPPEN

Neugierde ist die wichtigste Tugend bei Dokumentarfilmern und Beatrix Schwehm, die in Bremen lebt und arbeitet, hat sich bei ihren Filmprojekten immer vom eigenen Wissensdrang leiten lassen. Dadurch sind deren Themen auch so weit gestreut. Mit ihrem ersten 20 minütigen Filmessay „Mit Brennender Vernunft“ untersuchte sie etwa in einem eigenwillig assoziativen Stil die Frage, ob Frauen anders morden als Männer. Ihre erste und somit wichtigste Förderung von 27000 Mark bekam sie damals übrigens von der Bremer Filmförderung. Ihr nächstes Projekt „Die Kinder von Bulldogsbank“ von 1999 war schon viel ambitionierter. Darin machte sie sich auf die Spurensuche nach einer Gruppe von jüdischen Waisenkindern, die Theresienstadt überlebten und 1945 in ein Waisenhaus in England gebracht wurden.

Ihr nächstes Projekt „Dritte Halbzeit“, von dem später dann eine Kinofassung mit dem Titel „Vom Schaukeln der Dinge“ geschnitten wurde, ist schon dadurch außergewöhnlich, dass sie dabei zugleich von dem an Parkinson erkrankten Schauspieler Rudolf Höhn, dem Theater, der Literatur und der in Deutschland eher obskuren Sportart Rugby erzählt. Eigentlich hätte er heillos überladen sein müssen, aber da die Regisseurin gerade bei den scheinbar willkürlichen Abschweifungen immer nah bei ihrem Protagonisten bleibt, ist der Film wie aus einem Guss. Dies ist ihre Methode: sie will von den Menschen erzählen, die sie faszinieren, und schafft durch diese Sympathie ein Vertrauen, das filmisch sehr geglückte Momente ermöglicht. Und dabei sieht sie im Zufall ihren Verbündeten (seit 1999 arbeitet sie an einem „Work in Progress“ mit dem für sie programmatischen Titel „Von der der Schönheit des Zufalls“).

Ihr bisher größter, mit dem Grimmepreis ausgezeichneter , Erfolg war „Luise - Eine deutsche Muslima“, in dem sie einfach eine Familiengeschichte aus ihrem Bekanntenkreis erzählt. Die Protagonistin ist die Tochter einer in Bremen ansässigen Eventmanagerin und mit einem strenggläubigen algerischen Informatikstudenten verheiratet. Freiwillig, selbstbewusst und allem Anschein nach zufrieden nimmt sie all die Einschränkungen in Kauf, die solch ein Leben nach dem orthodoxen muslimischen Leben fordert. Auch der Regisseurin Doris Dörrie gefiel der Film und daraus entwickelte sich eine Freundschaft, die dazu führte, das Beatrix Schwehm ein Fernsehportrait von ihr unter dem Titel „Kunst darf unterhalten“ machte - ihre erste Auftragsarbeit. Mit „Erlesenen Welten“ ist sie aber nun wieder auf eine Suche gegangen, die sie diesmal in drei ferne Länder führte.

Information scheint in unserer Zeit allgegenwärtig und frei verfügbar. Diese Dokumentation macht deutlich, dass dies nicht überall selbstverständlich ist. Die Gutenberg-Galaxis hat immer noch ein paar nahezu schwarze Löcher: Gegenden, in denen es an Büchern und Lesern mangelt, und in denen es visionärer Projekte bedarf, um diese Zustände zu verbessern. Diese unbedingt nötige und extrem effektive Entwicklungshilfe wird nicht von den reichen Industrieländern, sondern von innen heraus initiiert. Es geht dabei darum, den Menschen in abgelegenen Gebieten mobile Bibliotheken zur Verfügung zu stellen. Mit Einfallsreichtum, Idealismus und viel Arbeitseinsatz haben drei Männer sich diese Aufgabe gestellt, und sind dabei, der Landschaften ihrer Heimat und den Bedürfnissen ihre Bewohner entsprechend, auf verblüffende, und in unseren Augen exotische Lösungen gekommen.

So hat der Architekt Mohammed Rezwan für die Bewohner der weitverzweigten Flusslandschaften von Bangladesch Bibliotheksboote entworfen, die er selber bauen ließ und betreibt. Abdullah Osman zieht mit einer Kamel-Bibliothek durch die Wüstenregionen von Kenia. Auf den Rücken der Tragtiere bringt er Bücherkisten zu den weitverzweigt lebenden Nomadenstämmen. In der Mongolei war der Kinderbuchautor Jambyn Dashdondog so unzufrieden mit der vernachlässigten Verbreitung von Literatur in seinem Heimatland, dass er sich jeweils in den Sommermonaten mit seiner Wanderbibliothek auf die Reise zu seinen potentiellen jungen Lesern macht. Beatrix Schwehm stellt diese ungewöhnlichen Bibliothekare vor, lässt sie mit eigenen Worten ihre Projekte erklären und begleitet sie auf ihren Reisen zu den Lesern.

Angeregt wurde die Regisseurin zu diesem Projekt wieder durch eine Zufall: in einem Yogakurs erzählte ihr eine Bibliothekarin von den kuriosen mobilen Bibliotheken in aller Welt. Nach aufwendigen Recherchen, bei denen auch eine Elefantenbibliothek in Thailand und eine Fahrradbibliothek in Thailand entdeckt wurden, konzentrierte Schwehm sich auf diese drei Protagonisten, die sich durch ihre markanten Persönlichkeiten auszeichneten. Und so ist sie auch hier wieder den einzelnen Menschen mit ihrer Kamera sehr nah gekommen und durch einen eher freien, impressionistischen Erzählstil Momente eingefangen, die eher poetisch als rein informativ die Verhältnisse in den durchweg armen Ländern auf den Punkt bringen. Oft sind ja gerade die kleinen, seltsamen Spuren die wirklich interessanten, und so zeigt Schwehm etwa, wie der Bibliotheksgründer in Bangladesh sich für sie auf die Suche nach einem speziellen Gedicht des berühmten Poeten Nazul über die Gleichheit von Mann und Frau begibt und ausgerechnet die entsprechende Seite aus dem Gedichtband herausgerissen wurde. Wenn ein kleiner Junge in der Mongolei zum ersten Mal einen Comic mit Spiderman sieht, werden plötzlich auf der Tonspur Geräusche von Actionszenen eingespielt, die die Fantasien des kleinen Lesers erahnen lassen.

Ein Buch mit Texten von Shakespeare in den Buchstaben einer für unsere Augen exotischen Schrift, ein Somali, der erzählt, wegen der Bibliothek würde er mit Leuten aus dem Nachbardorf reden und sie deshalb nicht so schnell töten, wie dies in der Vergangenheit üblich war - der Film ist voll von solchen Momenten, die deutlich machen, wie das Lesen in kleinen Schritten ein Leben ermöglicht, das sicherer, freier und reicher ist.

“Erlesenen Welten“ ist schon auf den Festivals von Lübeck und Leipzig gezeigt worden und läuft in diesem Frühjahr in Thessaloniki, Tartu und eventuell Toronto. Eine öffentliche Premiere ist im Laufe des Jahres geplant und da der Film von Arte gefördert wurde, wird er spätestens dort einmal zu sehen sein.