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Fotografie und Wahnsinn

MUSIKTHEATER Das vom „Kammerensemble Neue Musik“ inszenierte Stück „The Photographer“ von Philip Glass erzählt die Geschichte von Eadweard Muybridge, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Fotografie revolutionierte

Es ist, als atme der ganze Raum ein: Musiker und Tänzer sind „one body“

von Jana Bach

Zwei Männer und eine Frau umkreisen einander. Schmal sind ihre Bewegungen, groß die Schatten ihrer Körper, die über die Wände flackern. Die drei beschwören Furchtbares: „Einer von uns wird sterben“, wiederholen sie asynchron. Begleitet wird das Eifersuchtsdrama im ersten Akt von Chor und Orchester. Mit einer ganz eigenen Dynamik, ohne nur zu illustrieren, erweitert die Musik das, was sich auf der Bühne abspielt. Dort zelebriert das Trio den Plot: Muybridge hat den Ehebruch seiner Frau entdeckt.

Das Kammerensemble Neue Musik (KNM) und der Regisseur und Choreograf Shang-Chi Sun realisierten 2014 mit ihrer ­hypnotischen Inszenierung des Stücks „The Photographer“ einen 60-minütigen Genre-Mix aus Poesie und Wahnsinn. Es ist beinahe skandalös, welch großes Potenzial in dem Werk steckt, das Philip Glass 1982 zusammen mit dem Theatermacher Rob Malasch ursprünglich für das „Holland Festival“ schrieb. Und dass es mehr als dreißig Jahre dauerte, bis es auch hierzulande endlich in seiner Gesamtheit – im Berliner „Museum für Fotografie“ – erstmals aufgeführt wurde.

Das mag nicht zuletzt an der experimentellen Struktur des bisweilen als Kammeroper, von den Urhebern selbst als Mixed Media in drei Teilen bezeichneten Stücks liegen. Voneinander getrennt, aber seriell angelegt sind die Blöcke: Schauspiel, Violin­konzert und Tanz.

Liebe, Tod, Verrat, das sind wohl Zutaten für einen geradezu klassischen Bühnenstoff. Obwohl sich sicherlich auch zu Glass’ Meisterdisziplin, der Minimal Music, Parallelen ziehen lassen, speist sich „The Photographer“ hauptsächlich aus einer anderen Quelle: Nach Al­fred Einstein oder Mahatma Gan­dhi hat sich der amerikanische Komponist die Biografie von Eadweard Muybridge vorgeknöpft. Dieser gilt als Begründer der Serienfotografie und ist berühmt für seine Reihenaufnahmen von Tieren, später auch von Menschen.

Angesichts seiner technischen Findigkeit, fest verankert in der Historie, rückte ein anderes Ereignis in seinem Leben an den Rand des Vergessens. Und das, obwohl es ebenso in die Geschichte einging, und zwar in die der Justiz: Weil er verdächtige Briefe gefunden hatte, ermordete er den Liebhaber seiner Frau Flora, den Theaterkritiker Harry Larkins. Wegen „entschuldbaren Mordes“ verließ Muybridge das Gericht als ehrbarer Mann – es war der letzte ­Freispruch für ein der­artiges Verbrechen in Kalifornien.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Pionier der Fototechnik – der seine Bilder gern auch mal mit „Helios“, Sonnengott, si­gnierte – bereits den legendären Beweis erbracht, dass sich bei einem galoppierenden Pferd für den Bruchteil einer Sekunde alle vier Hufe in der Luft befinden.

Nach den Schatten im ersten Akt prescht im zweiten ein Pferd über die Wände. Auch andere von Muybridge in Serie aufgenommene Bilder laufen in Endlosschleife, wie die Elefanten oder zwei Männer, die miteinander ringen. Das wirkt jedoch nie monoton. Im Gegenteil: Aus den Bildern werden Filmsequenzen – längst hat sich das Hirn eine eigene Realität generiert und die Geschichte aus Motiven, Szenen und Textsplittern zusammengebastelt.

Insgesamt sei das Stück relativ frei interpretierbar, so Thomas Bruns, Produzent des Projekts und dramaturgischer Leiter des KNM. Bei den Repetitionen etwa oder in der Länge. Rob Malasch machte daraus ein fünfstündiges Theaterhappening. Das Team besuchte ihn vor der Aufführung in der Kölner Philharmonie, einer weiteren Spielstätte der Produktion neben der Cité de la Musique in Paris und Berlin.

Für Bruns funktioniert die komprimierte Form. „Den Text haben wir pur genommen“, und sie integrierten sogar Songs von David Byrne, den Glass für seine reinen Aufnahmen mit ins Boot holte. Änderungen, wie etwa Schauspiel und Tanz für diese Inszenierung in eine Hand zu geben, sind geglückt, spätestens wenn Shang-Chi Sun seine ­Darsteller aus dem ersten Part im letzten ebenso über die Bühne schickt, wie Muybridge seine Nackten aus den Bewegungsstudien Treppen hinabsteigen ließ – mit aufrechtem Oberkörper.

Das Kammerensemble treibt gegen Ende den Abend auf seinen Höhepunkt zu. Die ­Partitur gibt einen schnellen, harten Rhythmus vor. Der Chor schwillt an. Wie ein einziger Körper bewegt sich das Tanztrio über die Bühne. Ein gigantisches Gefüge, das bebt, ringt, sich windet. Es sei, als atme der ganze Raum zusammen ein, so Shang Chi Sun, „Musiker, Tänzer … one body“.

Und während alles zu einem rauschhaften Moment verschmilzt, ist es, als überspringe Muybridge, der Erfinder und Mörder im Wahn, eine Evolu­tionsstufe, um auf die niedrigste zurückzufallen. Gebannt ist die Fallhöhe des menschlichen Verstandes in einer Person: vom Geistesblitz bis zum Blackout.

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