Nein

Die HamburgerInnen über Olympia abstimmen zu lassen, war falsch – unabhängig vom Ergebnis. Klar ist es gut, dass die BürgerInnen gegen die unsichere Finanzierung dieses Großprojektes gestimmt haben, aber das Instrument als solches taugt nichts. Zwar stellen politische Initiativen und auch einige Parteien die direkte Demokratie in Zeiten großer Politikverdrossenheit und geringer Wahlbeteiligung als Allheilmittel dar, doch das Gegenteil ist der Fall.

Statt zu mehr politischer Beteiligung führt die unmittelbare Mitwirkung der Bürgerinnen an Entscheidungen zu Wahlmüdigkeit – ganz gleich ob von oben oder unten initiiert. Umso häufiger BürgerInnen die Möglichkeit haben, sich durch ihre Stimme am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. In der Schweiz pendelt die Wahlbeteiligung laut schweizerischem Statistikamt bei Volksabstimmungen seit 1990 zwischen 32 und 52 Prozent. In den meisten Fällen hat nicht einmal die Hälfte der BürgerInnen abgestimmt.

Die politischen Entscheidungen werden also von einer Minderheit getroffen. Zudem stellen die Abstimmenden keinen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft dar. An die Wahlurne treten insbesondere gut informierte, gebildete und wohlhabende Menschen. Schwächere soziale Milieus, auf deren Leben der Ausgang solcher Referenden entscheidende Auswirkungen hätte, beteiligen sich weniger.

Ein ähnliches Phänomen gibt es bei Wahlen. Die Frage ist, ob die ohnehin Privilegierten auch noch über konkrete politische Sachverhalte entscheiden sollten.

Dass sie das tun, war in Hamburg beispielhaft beobachtbar – beim Volksentscheid über die Schulreform 2010. Grundschüler sollten, statt nach der vierten Klasse in eine andere Schulform zu wechseln, zwei weitere Jahre gemeinsam lernen: in der sogenannten Primarschule. Das wäre vor allem Kindern aus sozial schwachen Familien zugute gekommen. Deren Eltern gingen aber kaum wählen – HamburgerInnen ohne deutschen Pass durften das gar nicht. Durchgesetzt haben sich die Eltern von GymnasiastInnen, das Bildungsbürgertum, das um die gesellschaftlichen Privilegien seiner Sprösslinge bangte.

BefürworterInnen und GegnerInnen versuchen vor einer Abstimmung, die WählerInnen zu überzeugen, zu manipulieren und auf ihre Seite zu ziehen. Die großflächige, millionenschwere, durch Steuermittel finanzierte Werbekampagne für Olympia ist dafür der beste Beweis. Dabei ging es weniger darum, den BürgerInnen Informationen zu vermitteln, sondern ein Gefühl. Politische Sachfragen werden emotionalisiert. Auf diese Weise werden keine nachhaltigen, zukunfts- und gemeinwohlorientierten Entscheidungen getroffen.

Wir wählen in einer repräsentativen Demokratie nicht umsonst Vertreter in ein Parlament, die sich hauptberuflich mit solchen politischen Fragestellungen beschäftigen. Natürlich sind Politiker nicht immer gleich Experten, aber sie können sich Expertise von außen holen – beispielsweise von politischen Initiativen, die konträre Meinungen vertreten. Das sollten sie sogar. Aber sie können die Entscheidungen nicht dem Volk überlassen.

Unser politisches System ist auf den Kompromiss ausgerichtet. Regierungen bestehen in der Regel aus Koalitionen und wegen unseres Verhältniswahlrechts sitzen mehr als zwei Parteien im Deutschen Bundestag. Die Oppositionsparteien stellen die Entscheidungen der Regierung immer wieder infrage. So ist sichergestellt, dass die Mehrheitsparteien auch Minderheitenmeinungen berücksichtigen.

Das können Volksabstimmungen mit ihren Ja-Nein-Fragen nicht leisten. Entweder-Oder schließt einen Kompromiss aus. Auch eine langfristige Planung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes oder einer Stadt, die das Allgemeinwohl im Blick hat, ist, wie beim Olympiareferendum, allenfalls ein Zufallsprodukt. Natürlich stimmen die Wähler zugunsten ihrer persönlichen Interessen ab und nicht im Hinblick auf das Allgemeinwohl.

Gäbe es beispielsweise Abstimmungen über die Energiepolitik, gäbe es zwar sicherlich bald keine Atomkraftwerke mehr, aber auch Stromtrassen und Windräder will so recht niemand in seiner Nähe haben. Es braucht gut informierte Politiker, die mit persönlichen Abstand eine Entscheidung für die Allgemeinheit treffen – dafür werden sie gewählt. Andrea Scharpen