heute in Bremen
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„Ein erreichbares Ziel“

Vortrag Thomas Morus' „Utopia“ zeigt auch nach 500 Jahren noch politische Perspektiven auf

Thomas Metscher

Foto: dpa/Marcel Mettelsiefen

81, ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Anglistik und Ästhetik.

taz: Herr Metscher, Sie sagen, wir leben in finsteren Zeiten. Wieso?

Thomas Metscher: Das hat viele Gründe. Man nehme die terroristischen Attacken in Paris und die kriegerische Reaktion des Westens. Oder den Welthunger: Alle sieben Sekunden stirbt ein Kind, obwohl doppelt so viele Lebensmittel wie nötig produziert werden. Eine solche Liste lässt sich ewig fortführen. Deshalb nenne ich die Weltlage derzeit finster.

Helfen Utopien da überhaupt?

Sie sind gerade in so katastrophalen Zeiten sogar notwendig. Sie geben politischem Handeln einen Horizont, an dem es sich orientieren kann. Utopien sind aber keine ausgedachte ideale Gesellschaftsform.

Sondern?

Sie stellen eine Alternative zur gegenwärtigen Situation dar. Morus beschreibt in „Utopia“ eine Gesellschaft, in der die dringendsten Probleme gelöst sind. Ein friedliches Kommunalwesen ohne Geld. Die Lösung der Probleme liegt im historisch Möglichen. Um auf mein Beispiel des Welthungers zurückzukommen: Es ist ein erreichbares Ziel, die Weltbevölkerung vollständig zu ernähren. Wir müssen aber historisch gewachsene Probleme lösen.

Geht das nicht auch in kleinen Schritten?

Natürlich. Aber auch die brauchen einen konkreten normativen Horizont zur Orientierung. Sonst könnten Missstände nicht rational verändert werden. Man muss fragen: Was muss erreicht werden? Und wieso ist es noch nicht erreichbar? Auch linke Sozialdemokraten verfolgen demnach eine Utopie. Sie wollen einen kontrollierten Kapitalismus schaffen, der soziale Gerechtigkeit herstellt. Das ist eine Handlungsoption und für die muss man nicht Kommunist sein.

War Marx ein Utopist?

Ich sage: Marx hielt sich selbst nicht für einen. In seinen Werken hält er sich mit Aussagen über eine Zukunftsgesellschaft eher zurück. Auch sein Grundprinzip einer freien Entfaltung der individuellen Produktivkräfte macht Marx nicht zu einem Utopisten.

Interview: Jannik Sohn

„Von der Notwendigkeit der Utopie in finsteren Zeiten“: 20 Uhr, Villa Ichon