Schuld und Sühne

Dostojewski verstehen
: Pathos und Pragmatismus

„Schuld und Sühne“ – ein großer Titel für einen großen Roman. Und im Deutschen schwülstiger, als von Dostojewski beabsichtigt. Die seltenere Übersetzung „Verbrechen und Strafe“ kommt dem russischen Original, „Prestuplenije i nakasanije“, deutlich näher. Auch das Englische ist mit „Crime and Punishment“ nüchtern.

Neigen die Deutschen zum Pathos? Dass der Roman hier unter einem so hochtrabenden Titel rangiert, offenbart ein deutsch-russisches Missverständnis, das älter zu sein scheint als Konflikte um feministische Punkbands und Ausflüge bewaffneter Pfadfinder auf die Krim. Die ­Deutschen suchen das schlechte Gewissen, irgendwo muss es ja sein. Raskolnikow haben seine Taten doch auch nicht kaltgelassen! Stimmt, aber offensichtlich geht es dem russischen Präsidenten anders.

Das deutsche Schuldbewusstsein ist ungläubig und weint leise. Deutsche Politiker müssten es besser wissen. Statt sich stets aufs Neue überrascht zu geben, sollten sie Pragmatismus mit Pragmatismus beantworten. Dem Romantitel konnten wir ein Gewissen verleihen, das ihm nicht innewohnt – mit Russland wird das nicht gelingen. Warum nehmen wir uns nicht ein Beispiel an Dostojewski und bleiben sachlich? Luisa Podsadny