Schuld und Sühne

Am Ende der Leitung

Kümmern „Helfen muss nicht immer aktiv sein“, sagt Ruth W., die ehrenamtlich in der kirchlichen Telefonseelsorge arbeitet

Warten auf den Ablasshandel Foto: Wlodzimierz Pniewski/voller Ernst

Das Telefon klingelt immer. Und Ruth W. hebt immer ab. Sie ist 40 Jahre alt, eigentlich Historikerin und seit zwei Jahren ehrenamtliche Telefonseelsorgerin. Heute hat sie eine Doppelschicht vor sich, das heißt: acht Stunden am Telefon den Nöten und Ängsten anderer Menschen zuhören. Die Arbeit gibt ihr viel und fordert viel von ihr: „Manchmal muss ich zwischen den Gesprächen zehn Minuten Pause machen, um mich zu sammeln.“ Dann geht Ruth W. in die Küche und macht sich einen Tee oder legt sich eine Weile auf das Bett, das in ihrem Dienstzimmer steht.

Anruf aus dem Hospiz

„Oft ist es Einsamkeit, weshalb die Menschen anrufen“, sagt Ruth W., „viele haben niemanden zum Reden.“ Das belegt auch die Statistik: 65 Prozent der Anrufer in Deutschland leben allein. Auch Probleme in der Familie, Tod, Abschied und Trauer lassen die Leute zum Hörer greifen. Manche wollen nur, dass man ihnen zuhört, andere suchen den Dialog, und einige schweigen einfach.

Einen Anruf hat Ruth W. besonders in Erinnerung. Während eines Nachtdienstes rief sie ein Mädchen aus dem Hospiz an. Das Gespräch dauerte über zwei Stunden, Ruth W. sang und las ihm sein Lieblingsmärchen vor. Sie war dabei, als die junge Frau langsam einschĺief. „Manche Telefonate lassen mich nicht mehr los“, sagt sie. Noch heute denkt sie manchmal an das Mädchen – was aus ihm geworden ist, weiß sie nicht. Mit einem Lächeln sagt Ruth W.: „Ich durfte sie ein Stück begleiten.“

Nachwuchs gesucht

In ihrem Büro stehen grüne Pflanzen, Bücherregale und ein großer Schreibtisch mit Computer. An der Wand hängt ein schlichtes Holzkreuz, das eine Stehlampe in warmes Licht taucht. Getragen wird die Telefonseelsorge gemeinsam von der evangelischen und katholischen Kirche, in den Beratungsgesprächen selbst spielt Religion allerdings keine Rolle.

Insgesamt 105 Büros betreibt die kirchliche Telefonseelsorge in Deutschland mit 8.000 Mitarbeitern, die rund um die Uhr im Einsatz sind. Ein Anruf ist anonym und unkompliziert – deswegen klingeln die Telefone durchgehend, der größte Andrang besteht zwischen 13 und 18 Uhr. Ehrenamtlicher Nachwuchs wird dringend gesucht.

In dem Berliner Büro, das versteckt im Hinterhaus eines Altbaus liegt, arbeiten 140 Ehrenamtliche. Viele haben einen Vollzeitjob und fahren dann manchmal nach einer Nachtschicht morgens direkt zur Arbeit. Deswegen gibt es im Büro Betten, eine Dusche und einen stets gefüllten Kühlschrank.

Dass sie gut auf sich selbst achten müssen, lernen die Seelsorger auch während der einjährigen Ausbildung, die sie absolvieren müssen. Neben dem Umgang mit Themen wie Alkoholismus, Depression, Tod und Suizid werden in der Ausbildung und bei regelmäßigen Weiterbildungen auch Kommunikations- und Fragemöglichkeiten trainiert. „Es ist wichtig, dem Anrufer keine Lösung vorzugeben, sondern ihn mit den richtigen Fragen selbst auf seine persönliche Antwort zu bringen“, erklärt Ruth W., „es geht darum, gemeinsam das Problem von außen zu betrachten.“ Uwe Müller, der das Berliner Büro seit 1988 leitet, sagt dazu: „Die Anrufer befinden sich in einer Enge, und ein Unbeteiligter kann ihnen dabei helfen, diese zu weiten.“

Foto: imago

Manche Menschen fühlen sich durch Schuldgefühle in die Enge getrieben. Sie können oder wollen ihre Last nicht mehr allein tragen. Vielleicht haben sie ihre Frau oder ihren Mann verprügelt, sie haben etwas gestohlen oder ein Kind missbraucht. Manchmal sind es auch ganz banale Dinge. „Ich kann ihnen weder die Schuld nehmen“, sagt Ruth W., „noch ihnen vergeben. Ich beurteile und verurteile nicht.“ Ruth W. sieht ihre Aufgabe darin, den Betroffenen zu helfen, mit ihrer Schuld umzugehen und zu leben.

Luisa Sophie Gröning,

Michelle Ostwald

Kirchliche Telefonseelsorge: 08 00-1 11 02 22