ADVENTSZEIT
: Schneekugel

Wir nehmen alle regen Anteil

Unsere Nachbarn haben einen aufblasbaren Weihnachtsmann in einer Schneekugel. Die Kugel sieht aus wie die üblichen kleinen Souvenirs, die man schütteln und in Schneegestöber tauchen kann – nur ist sie zwei Meter groß und vor der Terrasse unserer Nachbarn aufgestellt.

Sie sind die Einzigen in unserem Mietshauskomplex, die ihren Vorgarten in der Adventszeit weihnachtlich geschmückt haben. Darum nehmen wir alle regen Anteil an dem Weihnachtsmann und grüßen ihn sogar manchmal. Er steht mit ausgebreiteten Armen da, um ihn wirbelt Plastikschnee. Abends wird er vom bläulichen Licht unserer Fernsehapparate beleuchtet und bekommt dadurch etwas Geisterhaftes.

Doch heute Morgen ist er in sich zusammengesackt. Keine Luft mehr. Statt Schneegestöber gibt es nur noch faltige Plastikplanen. Unser Nachbar steht rauchend vor dem Häufchen Elend, offenbar ratlos, wie man dem entkräfteten Weihnachtsmann wohl noch helfen könnte. Ein anderer Nachbar tritt vor die Tür. „Was ist mit ihm?“, fragt er und deutet auf den Weihnachtsmann, der ganz unter der Plane verschwindet. Unser Nachbar zuckt die Schultern. Er pustet Rauch aus seinem Mundwinkel. Nun kommt auch aus der linken Terrassentür eine Nachbarin. Sie rafft eine Strickjacke vor ihrer Brust zusammen. Zu dritt stehen sie im Regen um das Elendshäuflein. „Er will wahrscheinlich zurück auf den Dachboden“, sagt unser Nachbar, „kein Wunder bei dem miesen Wetter“. „Oder er konnte einfach nicht mehr“, sagt der andere Nachbar. Er scheint aus eigener Erfahrung zu sprechen. In letzter Zeit ist er oft zu Hause. Er stupst die Plane mit dem Fuß an. Plötzlich bückt sich unser Nachbar. Er zieht eine Silvesterrakete unter dem Gummiboden der Kugel hervor und sieht sich suchend um. Ich ducke mich unwillkürlich, als würde das Beobachten mich zur Schuldigen machen. SANDRA NIERMEYER