Willy, der Wedding und die Abrissbirne

ZEITGESCHICHTE Vor fünfzig Jahren beschloss der Senat die Kahlschlagsanierung. Bernd Schimmler war Betroffener – und Befürworter

■ Am 11. Januar 1963 gibt der Senat unter Willy Brandt bekannt, dass die Flächensanierung in Westberlin im Wedding beginnt.

■ Anfang der Siebziger kommt es vor allem in Kreuzberg zu Protesten und Hausbesetzungen.

■ Mit dem Beschluss für eine IBA 1979 beginnt in Kreuzberg die behutsame Stadterneuerung. Die Abrissbirne ist gestoppt.

Siehe SEITE 24

VON UWE RADA

Wenn Bernd Schimmler auf dem Vinetaplatz steht, hellt sich sein Blick auf. Autos sind entlang der Swinemünder Straße verbannt, im Sommer spielen hier Kinder. „Der Platz wurde unter Beteiligung der Bewohner gestaltet“, betont Schimmler, als sei das nicht immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. Doch im Wedding begann der Fortschritt bereits vor 50 Jahren. „Flächensanierung“ hieß die Parole, die der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt ausgegeben hatte. Schimmler, 63 und wie Brandt SPD-Genosse, lässt die vergangenen 50 Jahre mit einer gewissen Gelassenheit Revue passieren. „Ich glaube“, sagt er, „die Entscheidung war richtig.“

Als Brandt und sein Bausenator Rolf Schwedler am 11. Januar 1963 den Wedding ins Zentrum der beginnenden Stadterneuerung rückten, war das Wort von der „Kahlschlagsanierung“ noch nicht geboren. Doch die Zahlen sprachen für sich: 430.000 Wohnungen der 837.670 Westberliner Wohnungen, so ein Gutachten, waren sanierungsbedürftig oder abbruchreif. Im Wedding kam erschwerend hinzu, dass das Gebiet südlich des Gesundbrunnens nach dem Mauerbau vom Rest der westlichen Stadthälfte abgehängt war. Lag es da nicht nahe, den Worten des Regierenden Bürgermeisters Taten folgen zu lassen? In seiner Regierungserklärung vom 18. März 1963 hatte Brandt betont: „Bauen ist eine kulturelle Aufgabe. Wir wollen hauptstädtisch bauen, denn unser politisches Ziel soll und muss auch in unseren Bauten erkennbar sein.“

Bernd Schimmler war zwölf Jahre alt, als die Sanierung im Wedding beschlossen wurde. Wenige Jahre später rückten die Bagger an. Von ursprünglich 39.000 Bewohnern sollten nur 24.000 bleiben. Seine Eltern schimpften. Wehrten sich. Zogen nicht aus aus der Graunstraße nahe der Gleimstraße und der Grenze zu Prenzlauer Berg. „Wir waren die Letzten bei uns im Haus“, erinnert sich Schimmler. „Bei uns gab es nur das Vorderhaus, das hätte man auch sanieren können.“ Doch der Widerstand war zwecklos. Bald waren 8.000 der 14.700 Wohnungen platt gemacht. Was der Krieg nicht schaffte, war für Willy Brandts SPD kein Problem.

Betroffener zu sein und gleichzeitig Genosse, das war für Schimmler damals nicht einfach. Als Betroffener hätte er den Umzug in die Demminer Straße gerne vermieden. Als Genosse betonte er die Vorteile: „Das war hier größtenteils menschenunwürdiges Wohnen“, sagt er und erinnert daran, dass die Wähler die SPD für Abriss und Neubau nicht abstraften. „Das war Willy Brandts Hochburg hier. 1961 hatte die SPD im südlichen Wedding 75,7 Prozent. Als die meisten ins Märkische Viertel gezogen waren, wunderte sich die Reinickendorfer CDU: Plötzlich gab es da eine satte SPD-Mehrheit.“

Sozialdemokratie und Sanierung, das war ganz im Sinne von Brandts „hauptstädtischem Bauen“. „Vor allem für die Bauwirtschaft war das ein riesiges Konjunkturprogramm“, sagt Schimmler. Damals entstand auch, was später als „Baumafia“ in die Berliner Geschichte eingehen sollte. SPDler wie Schimmler sprechen lieber von kommunalem Eigentum. Die Degewo, die die Kahlschlagsanierung im Wedding damals für den Senat vorantrieb, ist bis heute Berlins größte landeseigene Wohnungsbaugesellschaft.

Natürlich hat Bernd Schimmler, da war er längst in der BVV, auch über den Weddinger Tellerrand geschaut. In der Dresdner Straße in Kreuzberg gab es einen Drogisten, der wehrte sich gegen Abriss und Neubau am Kottbusser Tor. Werner Orlowsky hieß er und wurde später für die Alternative Liste zum Baustadtrat gekürt. „Kahlschlagsanierung“ hieß die „Flächensanierung“ nun bei den Protestlern. Im Wedding aber, meint Schimmler, waren sie eine Minderheit. „Das war auch der Grund, dass die Sanierung im Wedding durchgezogen wurde.“ 97 Prozent der Gebäude wurden abgerissen.“ In Kreuzberg stoppte der Protest den Abriss.

Wenn Schimmler heute auf dem Vinetaplatz steht, denkt er auch an Kreuzberg. Ein bisschen mehr Leben würde er sich schon wünschen. „Es fällt schwer, hier einen Marktbetreiber zu finden“, gibt er zu. Läden gibt es am Vinetaplatz keine mehr. Allerdings kommen seit kurzem die Touristen. Denen erzählt Schimmler dann, dass das Brunnenviertel, wie der neue Wedding seit einiger Zeit heißt, auf einem guten Weg sei. „Wegen der hohen Mieten in Mitte ziehen immer mehr Studenten hierher“, sagt er stolz.

Es klingt, als habe der Sozialdemokrat am Ende doch recht über den Betroffenen behalten.