Stille Rebellion

Probleme mit der äußeren Welt, Verwirrung im Innern: Egon Gramers erster, an Eduard Mörike angelehnter Roman „Gezeichnet: Franz Klett“

Egon Gramer, der knapp 70-jährige, in Stuttgart geborene Autor, beschäftigt sich seit langem mit Mörike. Neben vielen Essays und Hörspielen über den großen Schwaben hat er jetzt seinen ersten Roman veröffentlicht. „Gezeichnet: Franz Klett“ ist eine Geschichte, die in jenem Umfeld angesiedelt ist, die Egon Gramer in einem Mörike-Aufsatz als „gemütliche Grausamkeit“ bezeichnet hat.

Es ist die Geschichte einer Rebellion. Es ist die Geschichte einer Verschwörung gegen die vermeintliche Idylle auf dem Dorf, gegen die Gesetze – die geschriebenen und die ungeschriebenen, gegen die Väter und die Mütter, gegen die ganze Welt – und vor allem gegen sich selbst. Sie geschieht in aller Stille als Abwendung von allem. Franz Klett gehört nirgendwohin. Schon gar nicht zum „Flecken“, zum Ort im Schwäbischen, wo er wohnt. „Wer im Flecken drinnen ist, ist drinnen, wer draußen ist, bleibt draußen“, so lautet die Regel. Klett, im „Flecken“ aufgewachsen, war nie „drinnen“. Er war der beste Schüler, wollte aber nicht auf die höhere Schule in die Stadt, er traute sich zu sagen, was er dachte und wollte, auch dem Lehrer und dem Pfarrer.

Er war anders. Dem Kopfschütteln der Fleckenbewohner hielt er ein provozierendes Achselzucken entgegen und sein krachendes Gelächter, später sein hochmütiges „Ist doch mir egal“. Und noch viel später die allmähliche Selbstzerstörung.

Die Verwandtschaft ist augenfällig. Egon Gramers Hauptfigur könnte in einem Mörike-Gedicht oder Prosawerk auftreten. Es ist diese Unfähigkeit, dem äußeren Leben gerecht zu werden, die Lebensuntüchtigkeit und Abwendung von der Welt und die zunehmende Verwirrung über die Rätsel im eigenen Innern (wie sie etwa in Mörikes Gedicht „Verborgenheit“ anklingt), es ist diese „Mörike-Welthaltung“, die bei Egon Gramer wieder aufersteht. Mörike, der 1822 ins Tübinger Stift eintrat, um sich zum Theologen auszubilden, und Gramer, der studierte Theologe (und Sprachwissenschafter und Psychologe) haben wesensnahe Figuren geschaffen, die auch geografisch im nahe gelegenen „Flecken“ beheimatet sind. Oder eben nicht. Franz Klett wäre auch in der Stadt – und überall – „draußen“ geblieben.

Das bezeugen die Tagebuchaufzeichnungen seiner letzten vier Lebensjahre, die Notizen eines langsam und qualvoll Sterbenden, das beglaubigen die Eintragungen über sein selbst auferlegtes Martyrium. Die Hefte wurden nach dem Tod des 45-Jährigen zusammengeschnürt und Jahre später an Helmut, den einstigen Schulkameraden, übergeben. Dieser schreibt die Notizen ab, um sie zu verstehen, um ihrer habhaft zu werden, aber Kletts Leidensweg ist nicht erklärbar, weil die Abgründe, in denen er sich mehr und mehr aufhielt, für andere unzugänglich sind. Während seiner Studentenzeit hatte Mörike die geisteskranke Maria Meyer kennen gelernt und ihrer später in den „Peregrina-Gedichten“ gedacht.

Egon Gramer nimmt auch diesen Faden seines großen Dichterkollegen auf, indem er Franz Kletts Mutter als Geisteskranke zeichnet und so auch um sie einen hermetischen Kreis zieht. Einen, in den der Leser, die Leserin nicht eindringen kann, an dessen Außenrand sie stehen zu bleiben haben. So wie an der Peripherie von Franz Kletts Abgrund. Von Franz Klett, der sich von allem und allen abwendet – auch von ihnen, den Lesern. Das beschwert die Lektüre. Das rückt sie weg von der Gemütlichkeit, weil der Wille zum Verstehenwollen nicht abreißt. Aber auch von der Grausamkeit, weil die Nähe fehlt. Da bleibt wohl nur, sich mit der „gemütlichen Grausamkeit“ abzufinden. SILVIA HESS

Egon Gramer: „Gezeichnet: Franz Klett“. Piper Verlag, München 2005, 303 Seiten, 19,90 Euro