Erdichtung schön, Moral gemein

Ressentiments im Gewand der Gemütlichkeit. Eine Randnotiz

von JAN PHILIPP REEMTSMA

Am 1. Juli 1757 schreibt Moses Mendelssohn an seinen Freund Gotthold Ephraim Lessing, er habe gehört, dieser arbeite an einigen Fabeln: „Wir können wohl nicht hoffen, einige davon zu Gesicht zu bekommen, bevor sie im Druck erscheinen? Ich habe sehr oft erfahren, daß in dergleichen Dingen Ihre Freunde nicht den geringsten Vorzug haben. Vielleicht haben Sie hierin nicht ganz Unrecht. Sie lassen Ihren Witz mit der ganzen Welt buhlen, indes Ihr keusches Herz nur wahren Freunden aufbehalten ist.“

Lessing war kein zuverlässiger Briefpartner, das zeigt sich auch in anderen Korrespondenzen. Doch selbst Mendelssohn ließ manchmal auf sich warten. An diesem Tage aber ist er pikierter als sonst: „Machen Sie wenigstens, daß Sie noch diesen Sommer herkommen. Wie angenehm könnten wir die Abende zubringen, wenn Sie sich hierzu verstehen wollten; das heißt, wenn ich Ihren Eigensinn nicht kennte, der Ihre Freundschaft – – der Ihren Charakter – Doch schenken Sie mir heute den Schluß der Periode. Ich werde einen ganzen Brief zu diesem Gedanken bestimmen müssen, weil er einen Vorwurf enthält, den ich Ihnen noch machen muß, bevor wir uns wiedersehn. Ich bin bis dahin, ohne die geringste Zurückhaltung, Ihr wahrer und offenherziger Freund Moses.“ Lessing antwortet sogleich, erklärt sein Versäumnis mit dem geringen Wert, den er seiner Fabeldichterei beimisst, und legt einige aus dem Konvolut bei.

Am 31. Juli wird Lessing ungeduldig und schreibt an den Verleger Nicolai: „Ich habe Herrn Moses vor vier Wochen Fabeln geschickt, die er seit der Zeit längst hätte lesen, und mir mit einem non probo zurück schicken können.“ Nicolai unterrichtet Mendelssohn von Lessings indirekter Mahnung und jener schreibt am 4. August: „Ich hatte mein voriges Schreiben rätselhaft geschlossen, um mich in diesem deutlicher zu erklären. Ich hatte während Ihrer Anwesenheit allhier, in Ihrem freundschaftlichen Umgange eine Art von Zurückhaltung bemerkt, die mich eifersüchtig machte. Sie haben öfters eigennützigen Bekannten mehr Dienstfertigkeit zugetrauet als Ihren wahren Freunden. Wie hätten Sie sich sonst entschließen können, lieber M.N. verbunden zu sein, als mir Gelegenheit zu geben, Ihnen zu dienen?“ „M.N.“ – man nimmt an, das solle „Magister Naumann“ heißen – gemeint wäre dann Christian Nikolaus Naumann, ein Duzfreund Lessings seit dessen Leipziger Zeit und ansonsten ein erfolgloser Schriftsteller.

Persönlich verstand Lessing sich recht gut mit ihm, konnte mit Naumann, ist zu denken, ausgelassener sein als mit dem als intellektuellen Partner hochgeschätzten Mendelssohn. An dieser Schätzung scheint Mendelssohn in dieser Zeit jedoch zu zweifeln. Lessing hatte ihm geschrieben: „Schreiben Sie, lieber Moses, so viel als Ihre gesunde Hand nur immer vermag, und glauben Sie steif und fest, dass Sie nichts Mittelmäßiges schreiben können – denn ich habe es gesagt!“ Der letzte Satz war besser gemeint als gesagt. Ihn kann man sich entweder von einem gefallen lassen, von dem man weiß, dass er weiß, dass er intellektuell unter dem Gelobten, oder von einem, der in beider Augen zweifelsfrei über ihm steht. Das erste war nicht der Fall, das zweite aber durchaus nicht ausgemacht zwischen den beiden – im Gegenteil: Lessing hatte sich zuvor nicht so geriert. Das Lob war mithin vergiftet.

Als Lessing nun die Fabeln schickt, anschließend die fehlende Reaktion beklagt, seinerseits aber auf Mendelssohns übersandte Arbeiten nicht reagiert, reagiert dieser auf das an Nicolai geschriebene non probo: „Haben Sie an allen meinen überschickten Sachen gar nichts auszusetzen? Wissen Sie auch, dass es sehr ärgerlich ist, wenn man in allen Stücken ohne Widerspruch recht bekömmt? Ich soll immer fortfahren, so lange ich eine gesunde Hand habe. Ich will es Ihnen beweisen, dass meine gesunde Hand mehr schreiben kann, als Sie jemals billigen werden.“ Was für eine Volte. Auch eine Antwort darauf, was Aufklärung sei.

Doch zuvor hatte Mendelssohn den Eingang der übersandten Fabeln bestätigt: „Hier sind Ihre Fabeln. Sie haben nicht alle meinen Beifall. Jedoch sind die folgenden Stücke vollkommen Ihrer würdig: Aesopus und der Esel, der Rangstreit der Tiere, das Geschenk der Feien, der Affe und der Fuchs, und vielleicht auch der Geist des Salomo. In der Fabel Zeus und das Pferd ist die Erdichtung schön, aber die Moral gemein.“ Gemein, das heißt „gewöhnlich“. Es steht im Kontrast zu „Ihrer würdig“.

Am 18. August antwortet Lessing: „Ich wünschte, Sie hätten sie [die Fabeln, JPR] mir nicht zurückgeschickt, ohne mir die Fehler derjenigen, die Ihnen nicht gefallen haben, näher anzuzeigen. Das bin ich mir wohl bewusst, daß meine Moralen nicht immer die neuesten und wichtigsten sind; aber wer kann immer neu sein? Es ist wahr, die Lehre aus meiner Fabel Zeus und das Pferd ist schon oft eingekleidet worden; aber wenn gleichwohl meine Einkleidung eine von den besten ist, so kann ich, glaube ich, mit Recht verlangen, daß man die ältern und schlechtern für nicht geschrieben halte. Demohngeachtet aber denken Sie nur nicht, daß ich eine einzige will drucken lassen, die nicht Ihren vollkommenen Beifall hat.“ Gedruckt wurde „Zeus und das Pferd“ demungeachtet zusammen mit den anderen 1759 bei Voß in Berlin.

Was nun hat es mit Mendelssohns scharfer Kritik auf sich? Aus Lessings Replik lässt sich ersehen, worauf es ihm ankam: die Form. Er suchte im Genre der Fabel wie auch in anderen Gattungen die optimale Konzentration der sprachlichen Mittel. Dass ihm „Zeus und das Pferd“ formal gelungen sei, bestreitet Mendelssohn aber nicht, im Gegenteil: Er hebt die gelungene Form hervor, um die Moral desto deutlicher kritisieren zu können. Dafür ist Lessing taub. Er meint, dass allenfalls das fehlende Neue kritisiert werden könne. Doch interessiert Mendelssohn dieses Thema nicht. Nun aber ist es Zeit, die Fabel selbst vorzustellen:

Zeus und das Pferd

Vater der Tiere und Menschen, so sprach das Pferd und nahte sich dem Throne des Zeus, man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe heißt mich es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch verschiednes an mir zu bessern sein?

Und was meinst du denn, dass an dir zu bessern sei? Rede; ich nehme Lehre an: sprach der gute Gott, und lächelte.

Vielleicht, sprach das Pferd weiter, würde ich flüchtiger sein, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht verstellen; eine breitre Brust würde meine Stärke vermehren, und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der wohltätige Reiter auflegt.

Gut, versetzte Zeus; gedulde dich einen Augenblick! Zeus, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den Staub, da verband sich organisierter Stoff; und plötzlich stand vor dem Throne – das häßliche Kamel. Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu.

Hier sind höhere und schmächtigere Beine, sprach Zeus; hier ist ein langer Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist der anerschaffene Sattel. Willst du, Pferd, dass ich dich so umbilden soll?

Das Pferd zitterte noch.

Geh, fuhr Zeus fort; diesmal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Vermessenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure du fort, neues Geschöpf – Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das Kamel – und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern.

Die Quelle zu dieser Fabel soll erklären, warum Pferde vor Kamelen scheuen, und ist griechisch. Arabisch wäre so eine Geschichte undenkbar. Was störte Mendelssohn? Gehen wir ganz fehl in der Annahme, dass der körperlich beeinträchtigte – er hatte eine Rückgratverkrümmung, also das, was vulgo ein „Buckel“ genannt wird –, als Jude in vielerlei Hinsicht im Berlin der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Außenseiter gemachte junge Mann nicht umhin konnte, in dieser Fabel etwas wie eine antiassimilatorische Botschaft zu hören: dass die Juden solche seien, die über ihren Stand hinauswollten und den edlen Europäern als abschreckendes Beispiel für menschliche Anmaßung (auserwähltes Volk) dienen sollten – göttlich gestraft durch nahöstliche Hässlichkeit? –, dass der Antisemitismus, der damals nicht so hieß, ein vegetatives (also moralisch nicht kritisierbares) Zurückscheuen der edleren Natur vor der missgeschaffenen sei?

Wir sollten nicht meinen, Lessing habe die Fabel mit dieser Pointe geschrieben. Gleichwohl ist schwer vorstellbar, dass jemand wie Mendelssohn von einer solchen Geschichte nicht getroffen worden sein sollte. Seine Reaktion ist ja deutlich genug. Lessing, der Verfasser der „Juden“, der mit Mendelssohn verkehrt als einem Gleichwertigen, liefert ein Stück ab, an dem vielleicht am meisten auszusetzen ist, dass der Verfasser nicht merkt, wie es missverstanden werden kann und vor allem: wer es missverstehen kann. Lessings Reaktion macht die Probe aufs Exempel, er merkt nichts.

Und nun findet all das statt im Kontext von Mendelssohns Klage, Lessing ziehe die Freundschaft eines weniger als mediokren Autoren der des von ihm selbst als zweiten Spinoza hochgelobten Philosophen vor. Ist der Jude, den Lessing mit einem jüdischen Philosophen vergleicht, um ihn herauszustreichen (Kant wird man den Platon aus Königsberg nennen), ein intellektueller Gesprächspartner, aber taugt dennoch zum Freunde weniger als ein nicht-jüdischer Simpel? Man muss das Lessing gar nicht mal unterstellen. Er suchte seit früher Jugend nicht-intellektuellen Umgang – beim Theater, im Wirtshaus, am Spieltisch. Mendelssohn hat Lessing, und nicht nur die Fabel, vermutlich missverstanden. Aber er konnte wohl nicht umhin, ihn misszuverstehen. Der Enttäuschte wartete auf die erneute Enttäuschung gerade durch diesen einen, und sie traf ein. Und dann versteht dieser eine nicht, wie sein Freund reagiert – das ist die schließliche Bestätigung. Wie nennt Freud das Gefühl des Unheimlichen: die plötzliche Einsicht „und es ist doch wahr“.

Wäre retrospektive Skandalisierung am Platze à la „Lessing, ein verkappter Antisemit“? Das ist natürlich Unfug. Ich würde nicht einmal die Deutung für triftig halten, etwas Unterschwelliges habe sich da gezeigt – und zwar weder als psychologische Interpretation Lessings noch als Unterstellung, die Bilderwelt von Pferd und Kamel produziere eben solche antisemitischen Codes notwendigerweise. Nein, Lessing hat, wie in einigen der anderen Texte auch, durchaus Konventionelles gestaltet – Fabeln sind Texte, in denen konventionelle Moral gestaltet wird und die darum erlauben, zuweilen unkonventionelle Pointen zu setzen. Solche Konventionen haben mit Antisemitismus nichts zu tun. Aber antisemitisches Ressentiment bedient sich oft solcher Konventionen. Es ist meist der Drive antisemitischer Rede, extreme Bosheit in gemütlicher Konventionalität unterzubringen. Darum reagiert derjenige, den die Antisemiten hassen und der gelernt hat, die Töne zu erkennen, oft alarmiert, wenn die Konvention so daherkommt, dass sie der Antisemit nutzen könnte.

Schließlich bleibt noch der unangenehme Rest, der darin besteht, dass Lessing nicht sieht, was vor sich geht. Nicht nur zur Freundschaft gehört doch wohl, einen Sinn dafür zu entwickeln, dass einer zwar überempfindlich, aber aus Gründen ist. Lessing vermag nicht durch Mendelssohns Augen zu sehen. Und diese Weigerung, auf die sozialen Konventionen so zu sehen, als wäre man ein anderer, ein Angehöriger einer Minderheit, einer diskriminierten Gruppe, hängt mit der immer wieder anzutreffenden Neigung zusammen, manifesten Antisemitismus (oder worum es auch immer gerade geht) leugnend zu bagatellisieren. Wer von denjenigen, die sagten, sie wüssten nicht, was an Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ antisemitisch sei, hat das Buch gelesen und sich gefragt: Was würde ich dazu sagen, wenn ich ein Jude in Deutschland wäre?

JAN PHILIPP REEMTSMA, 52, ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Sein hier gekürzter Text erschien zuerst in der Oktober/November-Ausgabe von Mittelweg 36