„Von der Paradoxie einer freien Gesellschaft“

Das bleibt von der Woche Rot-Schwarz schafft die Kitagebühren ab, eine Lehrerin klagt gegen das Kopftuchverbot an Schulen, der Senat will Flüchtlingsunterkünfte auf dem Tempelhofer Feld bauen, und ein Wachschützer am Lageso wird gefeuert

FeldderFehde

Flüchtlinge in Tempelhof

Die Senatspläne sind der Einstieg in die Bebauung des ­Tempelhofer Feldes

Wofür steht das Tempelhofer Feld? Seit Mai 2014 ist es schlicht eine unbebaubare Freifläche qua Gesetz – und für viele Unterstützer des erfolgreichen Volksentscheids ein Symbol dafür, dass die Macht der Landespolitiker endlich ist. Für den Senat, vor allem für den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD), ist das einstige Flugfeld mit seiner Weite folglich ein eindrucksvolles Symbol für das Scheitern seiner Politik, genügend Wohnungen zu bauen.

Am Dienstag hat der Senat nun seine Pläne vorgestellt, wie das vom Volk beschlossene Gesetz verändert werden soll, damit man am Rand Tragluft­hallen für jeweils rund 800 Flüchtlinge aufstellen darf. ­Völlig zu Recht befürchten die Kritiker, dass auch temporäre Riesenzelte nur der Einstieg in die spätere Bebauung des Geländes sind – vor allem wenn man weiß, wie schmerzhaft die Niederlage auf dem Feld für den damaligen Stadtentwicklungssenator Müller war.

Das ist offensichtlich auch der CDU bewusst, noch Koali­tionspartner der Sozialdemokraten und eigentlich immer ein Fan von Wohnungsbau. Dennoch bremste ausgerechnet die Union am Donnerstag im Abgeordnetenhaus Müller und seine Pläne: Zur Eile gebe es keinen Grund, erklärte ihr Abgeord­neter Stefan Evers; und mit der Initiative 100 % Tempelhof, die den Entscheid durchgesetzt hatte, müsse der Senat auch netter umgehen, wenn er das Gesetz ändern wolle. Zum Beispiel mit ihr reden.

Werden die Christdemokraten zu Hütern des Volkswillens? Zu Verteidigern direkter Demokratie und Bewahrern des freien Tempelhofer Felds? Das wäre zu viel des Guten. Vor zwei Wochen hatte Müller der CDU in einer Regierungserklärung zum Thema Flüchtlinge Versagen vorgeworfen und CDU-Sozialsenator Mario Czaja den Rücktritt nahegelegt. Wen wundert es da, dass nun die Retourkutsche folgte? Gut möglich, dass das Piesacken Müllers noch weitergeht, schließlich ist die Abgeordnetenhauswahl erst im September 2016. Bert Schulz

Eltern sind noch nicht überzeugt

Kitas werden kostenlos

Saleh will – wie sein Parteigenosse Heinz Buschkowsky – die Kitapflicht einführen

Raed Saleh hat es geschafft: Ab August 2018 wird es in Berlin keine Kitagebühren mehr ­geben. Das hat die rot-schwarze Koalition am Montag verkündet. Der Besuch der vorschulischen Bildungseinrichtung soll also für alle Kinder kostenlos sein. Kostenlos – das klingt immer gut. Doch in diesem Fall musste Saleh, Fraktionschef der Berliner SPD, für die Durchsetzung der Kostenfreiheit sogar Kritik von Eltern von Kitakindern einstecken. Sie würden lieber die einkommensabhängigen Eigenbeiträge weiter bezahlen, sagen viele Mittel- und Gutverdiener – und dafür eine ordentliche Personalausstattung in den Kitas haben. Und die, die wenig oder nichts verdienen, sind sowieso längst von den Beiträgen befreit.

Finanziell kommt das seit Jahren von Saleh hartnäckig verfolgte Ziel Berlin also teuer zu stehen und unter den Eltern hauptsächlich denen zupass, die knapp über der Grenze zur Beitragsbefreiung liegen oder mehrere Kitakinder haben. Was treibt den Sozialdemokraten also, etwas durchzusetzen, was kaum viele Wählerstimmen bringen wird, dafür manche kosten kann?

Saleh hat das schon vor Jahren verraten. Er will – wie sein Parteigenosse, der ehemalige Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky, mit dem Saleh sonst wenig gemeinsam hat – eine Kitapflicht einführen. Schon vor der Schule sollen so vor allem Einwandererkinder richtig Deutsch lernen, damit sie vom 1. Schuljahr an gleiche Chancen haben.

Auch das klingt auf den ersten Blick nicht schlecht: Gleiche Bildungschancen, unabhängig von Elterneinkommen und -herkunft, sind ein gutes sozialdemokratisches Ziel. Doch damit Kitas einem solchen Bildungsauftrag tatsächlich gerecht werden können, müsste noch viel mehr geschehen: Aufwertung des Berufs der ErzieherInnen, bessere Bezahlung, spezialisiertere Ausbildung. ErzieherInnen müssten LehrerInnen werden.

Und: Eine Pflicht zum Kitabesuch müsste auch den Eltern (WählerInnen!) gegenüber durchgesetzt werden. Immerhin neigt Saleh anders als der paternalistisch-autoritäre Buschkowsky nicht dazu, dies kurzerhand mit der Androhung von Sanktionen zu tun. Er wolle die Eltern überzeugen, sagt Saleh, selbst Vater von Zwillingen. Wohlan! Da hat er noch viel zu tun. Alke Wierth

Neutralität steht auf der Kippe

Klage wegen Kopftuch

Die Mehrheiten in der Gesellschaft sind bei dieser Frage recht eindeutig

Es ist die Paradoxie einer freien Gesellschaft, dass sich die Einzelnen gegen das Befreiende entscheiden können. Etwa beim islamischen Kopftuch: Männer haben Frauen mit dieser Bekleidungsvorschrift einen Status übergestülpt, der ins Objekthafte tendiert – aber wenn eine Frau sich heute souverän für diesen Status und seinen textilen Ausdruck entscheidet, dann kann und soll sie das tun.

Über die vielen, deren Entscheidung weniger autonom ausfällt, ist damit noch nichts gesagt – genauso wenig wie über das Tragen des Tuchs in hoheitlicher Funktion. Hier ist für Berlin bald mit einer Grundsatzentscheidung zu rechnen, nachdem diese Woche eine muslimische Lehramtskandidatin gegen das Land geklagt hat. Sie wehrt sich dagegen, dass ihr eine Anstellung im öffentlichen Schuldienst verweigert wird, solange sie nicht bereit ist, ihr Kopftuch zum Unterrichten abzulegen. Das Arbeitsgericht befasst sich ab April damit.

Vorausgegangen war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass pauschale Kopftuchverbote für Lehrerinnen staatlicher Schulen nicht mit der Bekenntnisfreiheit vereinbar seien. Der Senat überprüfte daraufhin das seit 2005 geltende Neutralitätsgesetz, das neben Lehrern auch Polizisten und Richtern untersagt, im Dienst religiöse Symbole zu zeigen. Fazit: Es bleibt dabei – anderenfalls sei der Schulfrieden nicht gewährleistet. Eine eher wacklige rechtliche Grundlage, dabei sind die gesellschaftlichen Mehrheiten recht eindeutig: Zuletzt ergab die Programmumfrage der SPD, dass 81 Prozent ihrer Mitglieder das Neutralitätsgesetz für richtig halten.

Es wäre sehr bedauerlich, sollte das Gericht die weltanschauliche Neutralität in einem so sensiblen Bereich wie der Schule kippen. Egal, wie man es dreht: Religiöse Symbole separieren ein „Wir“ vom „Die“, und sie teilen implizit mit, dass das „Wir“-Kollektiv im Recht oder moralisch besser oder gar auserwählt ist. Dass der Staat dies als Repräsentant der Allgemeinheit legitimiert, ist absurd.

„Die pauschale Ablehnung des Kopftuchs im Schuldienst benachteiligt Frauen“, so die Anwältin der Klägerin. Richtig ist: Eine Religion benachteiligt Frauen, wenn sie diese durch Spezialkleidung markiert und ihnen nicht einmal Auszeiten zugesteht, um ihrer Arbeit nachgehen können. Claudius Prößer

Security als Watschen-männer

Flüchtlinge

Sie reagieren wie Menschen: leiden mit, weinen – oder verlieren die Nerven

Logisch: Nazimist verbreitende Wachmänner und Securitykräfte, die Flüchtlinge schlagen, sind inakzeptabel. Sie dürfen weder in Flüchtlingsunterkünften oder -anlaufstellen noch überhaupt irgendwo beschäftigt werden. Deshalb ist es natürlich völlig korrekt, dass am Dienstag ein Wachmann am Lageso wegen seiner rechten Hetze unter anderem gegen Flüchtlinge gefeuert wurde.

Und doch: Mit welcher Lust derzeit in der Flüchtlingsthematik auf böse Sicherheitsdienste oder Wachleute mit dem Finger gezeigt wird, kann auch stutzig machen. Sind etwa sie das Problem?

Nein. Wachleute stehen in der ersten Reihe den geflüchteten Männern, Kindern und Frauen gegenüber, die, nachdem sie Schreckliches erlebt haben, hier tage- und wochenlang unter erbärmlichen Bedingungen darauf warten müssen, untergebracht, versorgt, medizinisch behandelt, eben wie Menschen in Not empfangen zu werden.

Dass das nicht schnell genug und zudem – etwa Nacht für Nacht am Lageso – unter menschenunwürdigen Bedingungen geschieht, ist nicht die Schuld der Security-Leute, sondern die von Behörden und verantwortlichen PolitikerInnen. Sie versagen dabei, die von ihnen verantworteten Abläufe reibungslos und zügig durchzuführen und ihre Klientel freundlich und respektvoll zu behandeln.

Die Wachleute müssen das ausbaden. Sie sind diejenigen, die der Erschöpfung und Verzweiflung der Neuankömmlinge ausgesetzt sind. Sie sind Zielscheibe der Wut und Enttäuschung von Menschen, die durch ganz Europa geflüchtet sind, um hier Sicherheit zu finden, und nun Nacht für Nacht bei Minusgraden mit Babys auf dem Arm vor einer Behörde warten, die ihnen im besten Fall ein Bett in einer Flugzeughalle, einen Fahrschein und einen Termin in acht Wochen geben kann – für den sie im Januar dann wieder ab Mitternacht anstehen.

Die Wachschützer reagieren wie Menschen: Sie leiden mit, teilen mit Flüchtlingen Kaffee, Essen, Kleidung, weinen, wechseln den Job – oder verlieren die Nerven. Das ist so, weil die Zustände, denen sie ausgesetzt sind, unerträglich sind. Die müssen unbedingt geändert werden. Aber dafür müssten andere Stellen neu besetzt werden als die der Security. Der Fisch stinkt wie immer vom Kopf her.

Alke Wierth