Lila Aufstand gegen Berlusconi

ITALIEN Hunderttausende demonstrieren in Rom gegen den Premier und fordern seinen Rücktritt. Organisator ist keine Partei oder Gewerkschaft, sondern eine Facebook-Gruppe

„Silvio, tu einmal im Leben etwas Vernünftiges, tu den kleinen Schritt“

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Lila war das enorme Transparent an der Spitze des Zuges mit der knappen Forderung „Berlusconi dimissioni“: Berlusconi tritt zurück! Und in Lila kamen auch die hunderttausenden Menschen, die am Samstagnachmittag in Rom diesem Transparent folgten: Schals, Pullover, Krawatten, wehende Umhänge, Strumpfhosen, ja selbst das Halstuch eines mitlaufenden Hundes waren zum großen „No Berlusconi Day“ in Roms neuer politischer Modefarbe gehalten.

„Silviooo, Silviooo, wo bist du“, ruft ein junger Mann, der einen Stromverteilerkasten am Rande der Demo-Strecke erklommen hat, dabei schwingt er ein Paar Handschellen, hält ein Pappschild hoch mit dem Motto von der Mondlandung „ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit“. „Silvio, tu einmal im Leben etwas Vernünftiges, tu den kleinen Schritt“.

Silvio, der sich Handschellen anlegen lässt, der sich endlich seinen Prozessen stellt: Das ist es, was das Meer der Menschen in Lila will. „Wir erleben hier eine lila Revolution“, erklärte später begeistert einer der Organisatoren auf der Bühne der proppevollen Piazza San Giovanni.

In der Tat stellte die Demo vom Samstag ein Novum in Italiens reicher Protestgeschichte dar – ein Novum, das durch die Farbe Lila symbolisiert wurde. Keine Partei, keine Gewerkschaft stand hinter der Demonstration – sondern eine Facebook-Gruppe. Menschen, die sich vorher nie gesehen hatten, hatten sich im Web zusammengefunden, direkt nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts, das Anfang Oktober das Immunitätsgesetz zugunsten Berlusconis als verfassungswidrig gekippt hatte. Jene Facebook-Gruppe lancierte den Aufruf zur Demonstration in Rom, die den Artikel 3 der Verfassung – alle Menschen sind gleich vor dem Gesetz – in den Mittelpunkt rückte und Berlusconi mit der Aufforderung konfrontierte, er solle zurücktreten und sich seinen Prozessen stellen.

Dieses völlig anonyme Organisationskomitee stellte von Beginn an eines klar: Alle Oppositionsparteien dürfen kommen – doch keiner darf auch nur versuchen, der Veranstaltung seinen parteipolitischen Stempel aufzudrücken. So stand fest, dass kein Politiker bei der Kundgebung reden würde. Dagegen erhielten einfache Bürger oder auch Prominente wie Dario Fo das Wort. Den meisten Applaus bekam Salvatore Borsellino, Bruder des 1992 von der Mafia in die Luft gesprengten Staatsanwalts Paolo Borsellino, als er Berlusconi mit dem Verdacht allzu großer Nähe zur Cosa Nostra konfrontierte.

Aus dem politischen Raum hatten sämtliche Parteien der zersplitterten und aus dem Parlament verbannten radikalen Linken ebenso wie die Partei „Italien der Werte“ des früheren Anti-Korruptions-Staatsanwaltes Antonio Di Pietro zur Demo aufgerufen. Rote Fahnen waren neben lila Bannern – aber auch einer schwarzen Piratenflagge mit Totenkopf – immer wieder im Zug zu sehen. Doch die Machtverteilung war klar. Nichi Vendola, Chef eines der Spaltprodukte von Rifondazione Comunista und Ministerpräsident in Apulien, brachte sie auf den Punkt. „Wir sind Parteien ohne Volksanhang, während hier ein Volk ohne Parteien versammelt ist“.

Nicht gekommen war deshalb Pierluigi Bersani, Chef der größten Oppositionskraft, der gemäßigt linken Demokratischen Partei. Bis wenige Tage vor der Demo hatte er das Event in das Licht populistischen Protests tauchen wollen, überlegte es sich dann anders und stellte den Parteimitgliedern die Teilnahme frei . Auch viele Spitzenpolitiker der Demokraten waren am Samstag zu sehen. Doch als ein Sprecher bei der Abschlusskundgebung fragte: „Wo ist Bersani?“, gab es ein kräftiges Pfeifkonzert für die zaudernde parlamentarische Opposition.

Meinung + Diskussion SEITE 12