Mutter Mörderin und Vater Lebensgefährte

Als im März die siebenjährige Jessica in einer Hamburger Hochhauswohnung verhungerte, richtete sich der Zorn mehr gegen die Mutter als gegen den Vater. Der Prozess gegen die beiden konzentriert sich jetzt ebenfalls auf die Mutter

Auch ihre anderen Kinder hatte sie schon in abgedunkelten Räumen eingesperrt

HAMBURG taz ■ Der Schuldvorwurf war meist an die Mutter gerichtet: Von der „Horrormutter“ Marlies Sch. sprachen viele Medien, ihr Mann Burkhard M. wurde dagegen vor allem als ihr Lebensgefährte erwähnt, nicht als der Vater des misshandelten Kindes.

Auch für ihn war immer klar, dass die Mutter „für die Erziehung des Mädchens zuständig war“, wie er der Polizei sagte. Er übernahm die Verantwortung nicht einmal, als er erkennen musste, dass Marlies Sch. dazu weder bereit noch in der Lage war. Am 1. März starb das Mädchen qualvoll. Das Hamburger Landgericht verhandelt seit Mitte August über den Fall, am Montag soll die Beweisaufnahme abgeschlossen werden.

Beide Eltern sind wegen Mordes angeklagt. Jessica war über Jahre in ihrem Zimmer in der Hochhauswohnung eingesperrt, ohne Spielzeug, die Fenster mit dunkler Folie verdunkelt. Über Jahre bekam sie zu wenig zu essen und trinken. 8,6 Kilo wog die Siebenjährige, als sie starb – das ist das Gewicht eines einjährigen Babys. Um einen vergleichbaren Fall zu finden, sagte der Rechtsmediziner vor Gericht, müsste er „auf Sektionsprotokolle des Warschauer Ghettos zurückgreifen“.

Burkhard M. hört sich die Details aus Jessicas Leidensgeschichte vor Gericht regungslos an. Schon in der Todesnacht, schilderten Polizisten, schien dem Vater das Schicksal seiner Tochter gleichgültig zu sein. Marlies Sch. verharrt über Stunden in derselben Haltung, den Blick vom Geschehen abgewandt.

Für die Apathie des Vaters hat der psychiatrische Gutachter eine Erklärung gefunden. Er hat dem 49-Jährigen eine Störung im Fronthirnbereich diagnostiziert, die „zu seiner erschreckenden Gleichgültigkeit passt“. Für die Mutter gibt es eine entsprechende Diagnose nicht. So kommt es, dass trotz gleichlautender Anklage im Prozess inzwischen der Fokus allein auf der Mutter liegt.

Ihr Verteidiger Manfred Getzmann ist überzeugt, dass sie selbst in ihrer Kindheit traumatisiert wurde und die eigene Tochter dafür büßen musste. Marlies Sch. hat als kleines Mädchen selbst keine Fürsorge erlebt. Von ihrer eigenen Mutter konnte sich ein Bild machen, wer nach Jessicas Tod ein Fernsehinterview mit ihr gesehen hat. Ohne irgendetwas über die Umstände zu wissen, fiel sie nahezu mit Vernichtungswillen über ihre Tochter Marlies her, wünschte ihr „mehr als ‚lebenslang‘“ und Zwangssterilisation. Als Marlies Sch. ihre Kindheit vor Gericht schilderte, den Alkoholkonsum der Mutter, die wechselnden Männer in der Einzimmerwohnung, den sexuellem Missbrauch, fasste sie zusammen: „Das ist nur Hass.“

Der psychiatrische Sachverständige hingegen glaubt „an die Theorie vom großen Trauma nicht“. Die heute 36-Jährige habe sich „so normal entwickelt wie andere Kinder aus schwierigen Verhältnissen auch“. Sie war im Umgang mit ihren Kindern gestört, ansonsten aber „unauffällig“. Für ihn ist das Drama die Zuspitzung eines Konfliktes, der nicht zuletzt aus den klassischen Rollenerwartungen an Eltern herrührt. Als Mutter sei Marlies Sch. überfordert gewesen – die drei Kinder, die sie vor Jessica bekam, leben inzwischen bei Adoptiveltern und dem leiblichen Vater. Auch die hat sie schon in abgedunkelten Räumen eingesperrt und unzureichend ernährt. „Sie hat die Nähe ihrer Kinder nicht einmal geduldet“, sagte ihr Exmann vor Gericht. „Wenn sie in der Stube waren, ist sie nicht hereingekommen.“

Jessica hat Marlies Sch. nicht in eine Pflegefamilie gegeben. „Sie wollte nach außen nicht deutlich werden lassen, dass sie es wieder nicht packt“, sagte der psychiatrische Gutachter. Seit vier Jahren in der Wohnung eingesperrt, hat sich Jessica immer mehr zurückentwickelt, konnte schließlich nicht mehr laufen und sprechen. Spätestens ab dem Winter 2004, sagte der Gutachter, war das Mädchen körperlich in so dramatischer Verfassung, dass sie für die Mutter „nicht mehr vorzeigbar war“. Und spätestens ab da, setzte er hinzu, war es für Marlies Sch. täglich aufs Neue eine bewusste Entscheidung, die Quälerei trotzdem aufrechtzuerhalten.

Für den Vater war es immer so, dass die Frau verantwortlich für die Tochter war

Eine Chance hatten die Kinder von Marlies Sch. bei ihrer Mutter nur, solange diese nicht allein für sie verantwortlich war. In Jessicas ersten beiden Lebensjahren hat die Familie noch in einer WG in Hamburg-Billstedt gelebt. Darüber war Marlies Sch. sozial eingebunden, und ihr früherer Mitbewohner berichtete, in seinen Augen habe sich Jessica „normal“ entwickelt – wobei ihm nicht mal aufgefallen war, dass das Kind kein Spielzeug bekam. 2001 zog die Familie ins Jenfelder Hochhaus um. Seitdem hat das Mädchen niemand mehr gesehen. Als die Beziehung der Eltern im Frühjahr 2004 kriselte, brach der soziale Rahmen für Marlies Sch. endgültig weg. Burkhard M. zog sich noch mehr von seiner Tochter zurück, und laut dem psychiatrischen Sachverständigen hat sich Marlies Sch. gefragt: Warum ich?

Schließt sich das Gericht dem Votum der Gutachter an, wird sich auch in diesem Prozess widerspiegeln, was dem gesellschaftlichen Bild entspricht: Der Vater könnte wegen des medizinischen Befundes mit verminderter Schuldfähigkeit davonkommen. Und die Mutter käme als voll verantwortlich für den Tod der Tochter lebenslang in Haft. ELKE SPANNER