Krankheit "Leberknödel" ist ein humorvoller Roman über das Dasein
: Leben wollen

Die festgefahrenen Lese- und Wahrnehmungsgewohnheiten seiner Leser aufzumischen, ist eine Herzensangelegenheit des englischen Autors Will Self. Aus rein formaler Sicht erreicht der 54-Jährige das, bevor man seinen neuesten, auf Deutsch vorliegenden Roman „Leberknödel“ auch nur aufgeschlagen hat (woran die Grafikabteilung des Verlags nicht ganz unschuldig ist): Wie ein Gesangbuch, nur ohne Goldschnitt, liegt es unschuldig da, einzig der Titel stört das Bild.

Dann das erste Kapitel, es ist mit „Introitus“ überschrieben. Die Konsultation des Inhaltsverzeichnisses zeigt: Self hat den Roman, der im Original bereits 2008 in einer vier Texte umfassenden Sammlung namens „Liver“ erschienen ist, als Requiem konzipiert. Die Totenmesse wird für Joyce Beddoes, eine tödlich an Leberkrebs erkrankte Rentnerin aus Birmingham, abgehalten. Mit großer Könnerschaft skizziert Self in den ersten Zeilen das Geschehen und gewährt Einblicke in Leben und Denken seiner Protagonistin.

Zusammen mit ihrer Tochter Isobel sitzt sie im Flugzeug nach Zürich, um dort mittels Sterbehilfe ihrem Leid ein Ende zu setzen. Doch Joyce wirkt nicht wie eine, die nach ewiger Ruhe sucht. Sie hat Flugangst, und ihre Verachtung für Isobel lässt sie angriffslustig erscheinen. Will Self gibt seiner Protagonistin dafür ein Vokabular an die Hand, mit dem sie die aufgedunsene, ihrer Meinung nach heulsusige Isobel elegant mit einem ätzenden Pesthauch überzieht und dabei gleichsam sich selbst charakterisiert.

Ob sie sich in Zürich gegen die Einnahme des tödlichen Gifts entscheidet – Kyrie eleison, Herr erbarme Dich! –, weil sie der, wie sie findet, raffgierigen Tochter das Erbe noch ein wenig vorenthalten will, oder aus reinem Lebenswillen, kann sie selbst nicht sagen. Sie schickt Isobel nach Hause, wirft alle Schmerzmittel in den Müll. Flankiert von lebensbejahenden Textpassagen aus dem „Dies irae“, tauchen die titelgebenden Leberknödel im Kapitel „Sequentia“ auf und markieren Deus-ex-machina-artig den Wendepunkt in Joyces Leben: Eingeladen von einem eben kennengelernten streng gläubigen katholischen Paar und plötzlich wieder Hunger verspürend, isst sie in der Kronenhalle einen Teller Leberknödelsuppe.

Danach erfolgt die graduelle Rückkehr ins Leben: Sie sucht sich ein Zimmer, die sich normalisierenden Körperfunk­tio­nen, insbesondere ihre Ausscheidungen, beschreibt Self genüsslich. Die eben noch gebrechliche Joyce wandert mühelos durch Zürich und das Umland. Hier zeigt Self, der selbst ein passionierter Stadtwanderer ist, gute Ortskenntnisse, die falsche Angabe der Fließrichtung der Limmat (sie fließt aus dem Zürichsee hinaus und nicht hinein) sei ihm verziehen. Und ebenso plötzlich, wie der Krebs aufgetreten war, klingt er wieder vollkommen ab. Wie das Wunder witternde religiöse Fanatiker auf den Plan ruft, die gegen die Sterbehilfe vorgehen wollen, ist eine große Lesefreude, die der Satiriker Self einem bereitet. Dabei begeht er nicht den Fehler, wertend irgendjemanden bloßzustellen.

Mit jedem Tag normalisiert sich Joyces Leben, doch von Zufriedenheit ist sie weit entfernt. Sie verstößt ihre Tochter, deren Leben nun vollends aus dem Ruder läuft, lehnt jegliche Kontaktversuche alter Freundinnen ab. Es ist, als würde ihr das neu geschenkte Leben die Erbärmlichkeit des menschlichen Daseins umso schonungsloser vor Augen führen. Die Konsequenzen, die sie daraus zieht, lassen einem das Lachen im Halse stecken bleiben.

Die Tatsache, dass Will Self in „Leberknödel“ ein wahrhaftiges Anspielungsfeuerwerk auf James Joyce abfeuert – der Vorname der Protagonistin, Zürich, Friedhof Fluntern, Universitätsstraße (Joyce schrieb dort an „Ulysses“) –, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu erwähnen (während Romanciers wie Thomas Mann oder Max Frisch als Stammgäste in der Kronenhalle genannt werden, fällt der Name Joyce nicht, obwohl er dort sozusagen sein letztes Abendmahl zu sich nahm, bevor er starb), darf als Running Gag des Autors gewertet werden. Sylvia Prahl

Will Self: „Leberknödel“. Aus dem Eng­lischen von Gregor Hens. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015, 204 Seiten, 18 Euro