WIDERLEGTE ERÖFFNUNG
: Barlachs Bruder

Stets war ich davon ausgegangen, vor- mittags am besten arbeiten zu können

Als das alte Jahr endlich erledigt war, war ich so erleichtert wie nach der Abfassung der Steuererklärung. Trotzdem fiel es mir schwer, ins neue Jahr hineinzukommen. Passend zum Wetter fühlte ich mich durchgehend dumpf. Eigentlich wollte ich etwas über den Suhrkamp-Verlag schreiben, da ich neue Informationen hatte. Mein Schwager war mit dem Bruder von Hans Barlach zur Schule gegangen.

Doch statt aus dieser Information eine launige Kolumne zu gestalten oder hinaus ins Leben zu gehen, saß ich meist allein zu Hause, guckte Internet, spielte Online-Schach, machte mir jeden Tag Notizen über mein interessantes Leben, und abends dann Bier und bisschen kiffen. Guckte mir den Hobbit im Kino an und wunderte mich wieder, dass Tolkien, der in meiner Jugend eher als Kiffergeheimtipp gehandelt wurde, so wahnsinnig populär ist, dachte ergebnislos darüber nach, was der Satz auf der Milchpackung – „Karton aus verantwortungsvollen Quellen“ – wohl bedeuten mag, ging zum x-ten Mal das Manuskript meines Buchs durch, das vor Jahren schon hätte erscheinen sollen. Wenn ich nicht weiterkam, spielte ich Online-Schach. Immer wieder das Blackmar-Diemer-Gambit, eine opferreiche, aggressive und längst widerlegte Eröffnung. Beim Schachspielen fand ich heraus, dass ich mich mein ganzes Leben getäuscht hatte: Stets war ich davon ausgegangen, vormittags am besten arbeiten zu können, nun merkte ich, dass ich vormittags im tiefen Biotal und schlichtweg dumm bin. Wenn ich vormittags auf der niedrigsten Spielstufe Schach spiele, verliere ich meist. Nachmittags gewinne ich dagegen auf der zweitniedrigsten Stufe. Wenn ich dann mittags am Gewinnen bin, stürzt mein Safari oft ab. Und wenn mir vor zwanzig Jahren klar gewesen wäre, dass ich abends am besten arbeiten kann! Ach was. Vielleicht war früher ja sowieso ganz anders.

DETLEF KUHLBRODT