Auch irrationale Taten haben Ursachen

Auf soziale Ausgrenzung reagieren menschliche Gehirne mit Schmerzen. Terror kann die Folge sein

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Joachim Bauer

Monströse Gewalttaten wie jene in Paris verursachen bei den Opfern, so sie denn überlebt haben, psychisch nur schwer verheilende Wunden. Psychisch traumatisiert zurück bleiben auch verwitwete Partner, Eltern, Kinder und nahestehende Freunde von Getöteten. Der manchmal zu leichtfertig gebrauchte Begriff des Traumas beschreibt das Erleben einer Situation, in der die beiden typischen, sozusagen „gesunden“ Reaktionsmuster gegenüber einer uns plötzlich begegnenden Gefahr – Kampf oder Flucht - nicht mehr möglich sind.

Mit dem Erleben eines Traumas typischerweise verbunden ist stattdessen die Lähmung, die im Moment der Tat den Körper erfasst, aber nicht auf ihn beschränkt bleibt, sondern die Seele mit einbezieht. Das emotionale Einfrieren, das in der Fachsprache auch als „emotional numbness“ (emotionale Taubheit) bezeichnet wird, ist eine oft lang anhaltende, quälende Traumafolge.

Wir Außenstehenden mögen vorübergehend sprachlos oder geschockt gewesen sein, doch wir sind keine Traumatisierten. Unsere Beobachtersituation ist nicht vergleichbar mit jener eines Kindes, welches schwere Gewalt zwischen den Eltern oder Übergriffe eines Elternteils gegen ein Geschwisterkind als Zeuge erleben muss.

Wir dagegen mögen uns in den Tagen nach der Horrortat zwar hilflos gefühlt haben, so ausgeliefert wie das machtlose Kind sind wir jedoch keinesfalls. Wir alle sind jetzt aufgerufen, uns zu besinnen, womöglich den Opfern zu helfen und dazu beizutragen, dass weitere Gewalttaten verhindert werden.

Wir sind nicht gelähmt, können also etwas tun – aber wofür sollten wir plädieren? Sollten wir dem reflexartig ausgesandten Ruf nach Revanche – nach „Krieg“ –, nach einer harten Hand und einer Verschärfung von Strafen folgen? Es mag uns frustrieren, aber davon ist nichts zu erwarten. Warum sollten die Ansagen von härteren Strafen oder von „Krieg“ fanatische Täter, die den eigenen Tod in Kauf nehmen, beeindrucken? Das Gegenteil des beabsichtigten Effekts würde – und wird wohl – der Fall sein.

Der Grund dafür, dass wir uns mit einer vernunftgeleiteten Suche nach den Ursachen von destruktiver Gewalt und von Terrortaten seit Jahren schwertun, liegt darin, dass viele glauben, für irrationale Taten wie jene von Paris könne es keine rational erklärbaren Ursachen geben. Begründet wird dies entweder mit der krassen Amoralität derartiger Taten, die jeden Erklärungsversuch selbst zu einem amoralischen Unterfangen mache. Oder damit, dass menschliche Aggression – wie der Sexualtrieb – eine anthropologische Konstante und von daher nicht erklärungsfähig sei, selbst dann wenn die Gewalt in monströser Weise auftrete wie bei Terrorakten.

Diese auch von einigen Sozialpsychologen hierzulande vertretene Position hat ihren neuzeitlichen Ursprung in dem von Sigmund Freud postulierten Aggressionstrieb. Freuds Postulat wurde jedoch weder von Charles Darwin, der die menschliche Aggression als reaktives Geschehen beschrieb, geteilt, noch konnten die modernen Neurowissenschaften Freuds Hypothese bestätigen. Als stärkste menschliche Triebkraft identifizierte die moderne Hirnforschung das Streben des Menschen nach so­zia­ler Akzeptanz, Anerkennung und Zugehörigkeit. Dieses wissenschaftlich gut gesicherte Faktum macht den Menschen jedoch nicht moralisch „gut“.

Soziale Akzeptanz ist eine derart stark ausgeprägte menschliche Grundmotivation, dass Menschen bereit sind, Böses zu tun, nur um zugehörig zu sein. Thomas Insel, Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), eine der weltweit größten neurowissenschaftlichen Forschungsstätten, sagte vor einiger Zeit, der Wunsch des Menschen nach sozialer Verbundenheit sei so etwas wie eine „addiction disorder“, also eine Suchtkrankheit. Der Wunsch nach Zugehörigkeit um jeden Preis kann zu einer Quelle zwischenmenschlicher Aggression und Gewalt werden, weil Kriterien, die Zugehörigkeit begründen, meistens zugleich auch den Ausschluss bestimmter anderer, also die Bildung einer Outgroup mit sich bringen.

Die Ausgrenzung anderer kann sogar das ausschließliche Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Ingroup bilden. Was bedeutete die von Adolf Hitler postulierte „Volksgemeinschaft“ anderes als die Nichtzugehörigkeit zu den zahlreichen Untergruppen der Bevölkerung, allen voran die jüdischen Mitbürger, gefolgt von Anhängern linker Parteien, Sinti und Roma, Homosexuellen und seelisch Kranken? Was anderes als die Feindseligkeit gegenüber dem Fremden ist es, was die Anhänger der „Pegida“-Bewegung untereinander verbindet? Auch Religionen, derzeit vor allem der Islam, haben das Potenzial zur Spaltung und zu einem sich daraus speisenden Hass.

Um den Hintergrund für die seit Jahren ausgeübte islamistische Gewalt auszuleuchten, muss jedoch eine zweite, neurowissenschaftlich ebenfalls sehr gut belegte Aggressionsquelle mit in die Betrachtung einbezogen werden. Ein entscheidender Grund, warum die Evolution das Verhaltensprogramm der Aggression nicht eliminiert hat, war ihre lebenserhaltende Bedeutung bei der Abwehr von Schmerz und der Bewahrung der körperlichen Unversehrtheit. Wessen Schmerzgrenze berührt wird und wer bei Bedarf keine Aggression emittieren kann, hat es schwer und wird nicht lange überleben.

Eine der bedeutendsten neurowissenschaftlichen Beobachtungen der vergangenen Jahre war, dass die Schmerzzentren des menschlichen Gehirns nicht nur bei der Zufügung körperlicher Schmerzen aktiv werden, sondern auch dann, wenn sich eine Person sozial ausgegrenzt fühlt. Das menschliche Gehirn reagiert auf so­ziale Diskriminierung also ähnlich wie auf einen körperlichen Angriff. Daher erhöht nicht nur zugefügter körperlicher Schmerz die Aggressionsbereitschaft, sondern auch Ausgrenzung oder Demütigung.

Joachim Bauer

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Jahrgang 1951, ist Neurowissenschaftler und Psychiater am Uniklinikum Freiburg. Er ist Autor eines Buches über die Ursachen von Gewalt aus neurowissenschaftlicher Sicht: „Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“, Heyne Verlag, 2013.

Eine Reaktion der Schmerzzentren ist jedoch nicht nur dann zu beobachten, wenn eine Person selbst ausgegrenzt wird, sondern auch dann, wenn jemand „nur“ miterlebt, wie ein Mitglied der eigenen Ingroup gedemütigt wird, zum Beispiel ein Familienmitglied, ein Angehöriger der eigenen Religion oder der eigenen Ethnie. Identifizierungsvorgänge dieser Art können dazu führen, dass sich Gewaltreaktionen wie eine ansteckende Krankheit epidemisch ausbreiten. Dies ist der Grund, warum das, was im Nahen und Mittleren Osten passiert, sich überall auf der Welt auswirkt.

Ausgrenzungen und Demütigungen werden nicht nur dort erlebt, wo Menschengruppen verbal oder im alltäglichen Umgang herabgesetzt werden, sondern auch dort, wo Menschen in Armut leben und von Bildungs- und Entwicklungschancen abgeschnitten bleiben. Dies betrifft nicht nur das Leben in der Banlieue von Paris.

Wir leben in einer medial komplett vernetzten Welt. Daher wird überall da, wo Menschen Armut erleiden, diese zugleich immer auch im Angesicht großen Reichtums erlebt. Studien zeigen einen linearen Zusammenhang zwischen der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen einerseits und Tötungsdelikten pro 100 000 Einwohner andererseits. Das menschliche Gehirn ist keineswegs kommunistisch, es toleriert, dass Menschen unter wirtschaftlich unterschiedlichen Bedingungen leben. Die Toleranz gegenüber Ungleichheit endet jedoch dort, wo krasse Benachteiligung auf ausgeprägte Privilegierung trifft. Solche Konstellationen bilden die derzeitige globale Realität.

Wie also kann der Sumpf ausgetrocknet werden, aus dem die terroristische Brut immer wieder neu hervorwächst? Die Täter und ihre Hintermänner gehören hinter Gitter, und zukünftige Täter sollten wir fassen, bevor sie ihre Taten begehen. Doch das wird nicht ausreichen. Wir brauchen ein neues Nachdenken über das stärkste Antidot gegen globalen Terrorismus: globale Gerechtigkeit und ein Ende all dessen, was in vielen Ländern dieser Erde als Ausbeutung und Demütigung erlebt wird.

Hunderttausende junge Männer in Ländern, die derzeit durch Unruhen und Kriege paralysiert sind, suchen nach Möglichkeiten, sich zu bewähren und nützlich zu machen. Was sie dazu brauchen, ist familiäre und so­zia­le Verbundenheit und ein Zugang zu Bildungswegen. Wenn die zivilisierte Welt ihnen diese Möglichkeiten nicht bietet, suchen sie nach Alternativen. Über lange Zeit in einer Anlage immer wieder auftretende Brände beendet man nicht dadurch, dass man überall mehr Feuerlöscher aufstellt, sondern indem man den Ursachen für die Brandneigung auf den Grund geht und sie abstellt.