JULIAN WEBER LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Vektoren und Content-Proletariat

Die Fähigkeit, Ereignisse von ferne wahrzunehmen, auch wenn sie die Sinne übersteigen: Bei der Übersetzung des englischen Wortes „Telesthesia“ versagen die Nachschlagewerke. Umso interessanter, dass es McKenzie Wark als Titel für sein neues Buch gewählt hat („Telesthesia. Communication, Culture and Class“, Polity Press, Cambridge 2012). Damit nimmt er Bezug auf Distanz und Geschwindigkeit, zwei Begriffe, die durch Internet und Mobiltelefonie an Bedeutung verloren haben, da mit ihnen überall und nirgendwo Informationen täglich rasend schnell über weite Strecken übermittelt werden.

„Jede soziale Form“, schreibt der an der New School of Social Research in New York lehrende Australier im Vorwort, „die einer Kommunikationsinfrastruktur zu eigen ist, gibt ein spezifisches Tempo vor. Sie macht sich bemerkbar, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht.“

„Telesthesia“ ist spekulativ, aber schlüssig argumentiert und elegant geschrieben. Wark erklärt seine Keywords ausführlich: das „seltsame globale Medienereignis“ etwa am Beispiel von Occupy Wall Street in New York. Er untersucht Arbeitsbedingungen von Programmierern multidimensionaler Computerspiele, ordnet sie einem „militärischen Unterhaltungskomplex“ zu. Er charakterisiert Umgangsformen im Netz zwischen „der Klasse der Vektoren“ (diejenigen, die den Informationsfluss steuern) und „der Klasse der Hacker“ („intellektuelle Besitzlose“, das Content-Proletariat).

2012 war ein Schaltjahr, was Digitalisierung angeht. Nie gab es kürzere Update-Intervalle, nie waren die Diskussionen um die Folgen der gigantischen technischen Umwälzung im Netz hitziger. Brauchbare Medientheorie, die im Umgang mit den elektronischen Lebensaspekten das Rüstzeug liefern könnte, ist Mangelware. „Telesthesia“ ist ein Grundlagenwerk, das unter weitgehender Aussparung von Sozialromantik die Wahrnehmung schärfen hilft.

■ Der Autor ist taz-Musikredakteur Foto: privat