Die Wolf und die Hundertstelsekunde

Die Eissprinterin Jenny Wolf läuft Weltjahresbestzeit über 500 Meter. Nun ist die 26-jährige Berlinerin Mitfavoritin für die Olympischen Spiele in Turin

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Es wird ernst für Jenny Wolf. Die Eissprinterin aus Berlin hat erneut ein Ausrufezeichen gesetzt. Vor einer Woche schon war sie mit 38,55 Sekunden Weltjahresbestzeit über die 500 Meter gelaufen. Bei der deutschen Einzelstreckenmeisterschaft am Wochenende in Hohenschönhausen verbesserte sie diese Zeit noch einmal um eine Hundertstelsekunde.

Plötzlich stand sie im Mittelpunkt des Medieninteresses. Deutschlands beste Winterolympionikin Claudia Pechstein gewann zwar den Titel über 1.500 Meter. Im Rennen auf der von ihr nicht favorisierten Distanz war sie jedoch ohne ernsthafte Konkurrenz angetreten. Pechstein lieferte ein solide, aber keineswegs bemerkenswerte Leitung.

Ganz anders Jenny Wolf. Thomas Schubert, ihr Trainer, hat lange auf solche Zeiten warten müssen. Zwar war seine Athletin schon einmal WM-Vierte und hat etliche herausragende Weltcup-Platzierungen vorzuweisen. Aber der Sprung nach ganz oben ist ihr noch nicht gelungen. „Ich war schon auch von mir selbst enttäuscht in den letzten Jahren, weil nicht wirklich etwas passiert ist“, berichtet die Sprinterin. 26 Jahre alt ist sie mittlerweile. Zum Nachwuchs wird sie nicht mehr gerechnet. Und sie weiß das.

Nach ihrem Paukenschlag zur Saisoneröffnung vor einer Woche war sie noch ein wenig unsicher: „Es war nur ein Lauf – mal sehen, ob es auch so weitergeht“, sagte Wolf vor dem Start bei der deutschen Meisterschaft. Es ist so weitergegangen.

Mit zwei Läufen hat sich Jenny Wolf hineinkatapultiert in den Favoritenkreis für die Olympischen Winterspiele in Turin. Niemand kann sagen, ob sie zum Saisonhöhepunkt ebenso fit und schnell sein wird wie bei den Auftaktrennen. Doch Wolf hatte Olympia schon beim Sommertraining im Hinterkopf.

Schon einmal hat sie an Olympischen Spielen teilgenommen, 2002 in Salt Lake City. „Es war fantastisch“, erinnert sie sich, „ich hatte ja auch keinen Druck. Es war super in Amerika – alle nett, ja, das war schön.“ In Salt Lake City wurde sie 15. über 500 Meter.

Olympia in Turin und vor allem das Drumherum wird sie wohl nicht so genießen können. Diesmal steht sie unter Druck. Denn sie will eine Medaille: „Wenn man sich niedrige Ziele setzt, braucht man gar nicht anzutreten.“ Doch Jenny Wolf denkt darüber hinaus. Bis zu den Spielen 2010 in Vancouver will sie weiterlaufen: „Kanada ist immer schön“, sagt sie.

Bis dahin möchte sie auch mit ihrem Studium weitergekommen sein. Wolf studiert an der Humboldt-Universität Germanistik und Soziologie. Das ist durchaus bemerkenswert. Denn die meisten ihren Sportkameradinnen sind bei der Bundeswehr angestellt. Das bedeutet für Wolf auch, dass sie so manches Trainingslager selbst bezahlen musste, dass sie sich um vieles allein kümmern muss. Ohne die Unterstützung ihrer Eltern hätte sie nicht in die internationale Elite vorstoßen können. Als Berufssoldatin fiele es leichter, das Sportlerleben zu finanzieren. Dennoch hat sie nie an den Eintritt in die Truppe gedacht: „Man hat schließlich seine Prinzipien.“

Jenny Wolf hat den Durchbruch auf ihre ganz eigene Art geschafft. Ähnlich unkonventionell war ihr Einstieg in die Eislaufszene. Mit sieben bekam sie zu Weihnachten Schlittschuhe geschenkt und lernte Eis laufen. Ein Jahr später entdeckte ihre Mutter eine Annonce des Eissportverbandes im Neuen Deutschland. Mädchen, die sich für Eiskunstlauf begeisterten, sollten sich melden. Die Wolfs meldeten sich. Jenny fand Eiskunstlauf albern und wollte lieber Eisschnellläuferin werden. Im Sichtungssystem der DDR hat sich die kleine Jenny selbst aufgedrängt. Ihr Wille hat sie nun bis in die Weltspitze geführt.