Kunst-Hopping im Problembezirk

Kopfüber in die Nacht: Mit Taxen und Bussen brachte einen die Aktion „Nacht und Nebel“ durch Neukölln. Es gab Performances, hippiehafte Hobbymaler und weltweit berühmte Kunstkopisten – Leuchttürme inmitten vermeintlicher Schmuddelecken

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Schon mehrfach hat der Spiegel ja in seinen Schockreportagen von hungernden Kindern in der Karl-Marx-Allee, täglichen Schießereien und der Verelendung berichtet. Aber machen wir uns nichts vor, auch für uns Berliner ist der Trinker in Jogginghose das Wahrzeichen Neuköllns – deshalb bemüht man sich nun auch von Amts wegen, das Image des größten Berliner Bezirks aufzumöbeln. Und es gibt doch auch so viel Schönes hier: die Neuköllner Oper! Überhaupt das dörfliche Rixdorf, der Körnerpark …

Die Aktion „Nacht und Nebel“, organisiert vom Kulturbüro Schillerpalais, finanziert vom Quartiersmanagement, soll also die bessere Seite Neuköllns ans Licht bringen – Kunst und Kultur, damit der Schmuddelbezirk an seine eigenen Leuchttürme glauben kann. Zum Kunst-Hopping konnte man sich am vergangenen Samstag von 19 bis 24 Uhr kostenlos von Großraumtaxen und einem BVG-Bus zu den 37 Stationen durch die Neuköllner Nacht bringen lassen.

Ausgangspunkt ist das Kulturbüro Schillerpalais. Die Gegend um die Schillerpromenade wirkt sehr ordentlich und bürgerlich. Um 1900 wurde hier ein Wohnpark für wohlhabende Rixdorfer mit einer Grünanlage als Mittelstreifen gebaut, herrschaftliche Häuser im Gründerzeit-Reformerstil. Wer die anderen Quartiersmanagement-Gegenden wie Wrangelkiez oder die Soldiner Straße kennt, wundert sich. In der „Osteria Lampedusa“ werden sogar schon Tagliatelle „an“ Salbeibutter angeboten … Gentrification ick hör dir trapsen!

Der hübsch begrünte Mittelstreifen endet am Spielplatz, eine dunkle Ecke. Da raschelt es im Laub, in einer Ecke erheben sich dunkle Gestalten – sind wir jetzt doch in ein Rückzugsgebiet sich bekriegender libanesischer Großfamilien geraten oder in eine Junkie-Ecke? Aber nein, hier ist nur der Backstage-Bereich der nächsten Performance eingerichtet, man bastelt noch an Licht und Ton.

Einige Grüppchen sind mit den Taxis und dem Bus unterwegs, man kommt ins Gespräch. Ein älteres Ehepaar gibt Tipps: „Gehn Se mal da vor, zu Rathke da werden Se ’ne Überraschung erleben, da jehn zwee Männer als Frau!“ Und so geht man durch gepflegte Hinterhöfe in fremde Ateliers und Wohnungen.

In der Atelierwohnung von Egon Rathke sind Ölgemälde, Pastelle und Collagen ausgestellt, die den männlichen Körper, aber auch dessen Kommerzialisierung zum Thema haben. Bei Rathke im Wohnzimmer steht dann auch schon das Rentnerpaar, im angeregten Plausch mit den Drag Queens, bei Wein und Erdnussflips.

Inzwischen hat aber auch die Performance „Trashy Spinning GoGo Dance“ auf dem Mittelstreifen begonnen: Fantastische Kostüme aus Müllmaterialien wurden kreiert, Kriolinen mit drei Meter Umfang, Flittergebirge aus Chipstüten und wehenden Kasettenbändern, Applikationen aus CDs. Außerirdische und Insekten fegen über den Mittelstreifen, Staubsaugerschläuche werden zu Atemgeräten, Gurkendosen zu Plateauschuhen.

Ein paar Meter weiter, im KNK Kunstraum, durchschreitet eine weiß gekleidete Tänzerin den weißen Raum. Das Ganze wird als „prozessorientierte Arbeit“ auf einer Webseite, aber auch live nach Saõ Paulo übertragen. Nicht alle Programmpunkte sind so spektakulär: Manche Künstler, die in den leer stehenden Läden arbeiten, könnte man auch unter dem Genre „hippiehafte Hobbymaler“ zusammenfassen. Aber auch hier ist ein schöner Gemeinsinn zu beobachten, wenn sich zu später Stunde dann die hennarote Künstlerin in den besten Jahren und die Kiezjugendlichen mit Migrationshintergrund zum kreativen „Bauen und Rauchen“ zusammen tun.

Im Nacht-und-Nebel-BVG-Bus spielen drei Musiker mit Akkordeon, Waschbrett und Gitarre zur Unterhaltung auf. Man fährt an vielen leer stehenden Läden vorbei, an alteingesessener Trinkergastronomie, an der „Zwitscherstube“ und dem „Ambrosius“. Die Sängerin am Waschbrett baut in ihre Variationen vorbeiziehenden Leuchtschriften ein, und so wird es eine unwirkliche, melancholische, sehr warme Fahrt.

Aber es hilft nichts, wer noch was sehen will, muss raus und steht auf der Suche nach dem nächsten Programmpunkt etwas verloren am Maybachufer zwischen Aldi und Lidl. Punkt 30 „Sportclub Helga“ gerät zuerst zu einer Enttäuschung, hatte man doch eine authentisch-verschwitzte Muckibude erwartet und findet dann eine sehr nette Tagesbar, die in Ausstattung und Atmosphäre an die besseren Zeiten von Berlin-Mitte erinnert.

Viele Stationen wie die Bötzowbrauerei in Rixdorf bleiben unbesucht, denn der Taxen-und-Bus-Shuttle funktioniert zwar gut, aber Neukölln ist doch ganz schön weitläufig. Zum Schluss geht es aber noch zu den „Kunstfälschern von Neukölln“ in die Wipperstraße. Die drei Brüder Posin zählen, laut Infoblatt, zu den bedeutendsten Kunstkopisten der Welt. In ihrem Atelier im Erdgeschoss sitzen Neuköllner Rentnerinnen mit Hund auf mächtigen Sofas. Auf schweren Sesseln ruhen die langbärtigen russischen Kunstfälscherbrüder wie müde Statuen am Couchtisch, man fühlt sich in eine Szenerie von Gogols „Tote Seelen“ versetzt. Die Räume hängen und stehen voll mit Kunstgeschichte: die Mona Lisa, Van Goghs Sonnenblumen, Otto Dix, der blaue Reiter, Modigliani und Raffael neben dem Dürerhasen, im Keller geht es endlos weiter.

Dann ist Mitternacht, die Nacht-und-Nebel-Nacht ist zu Ende und man fährt nach Hause – Neukölln hat heute wirklich neue Seiten gezeigt.