„Indien ist nicht anders“

MISSBRAUCH In Delhi stehen sechs Männer wegen Vergewaltigung vor Gericht. Die Autorin Pinki Virani hat einen ähnlichen Fall in Bombay rekonstruiert

■ 53, stammt aus Bombay und hat sich in ihren Bestsellern mit Themen wie Vergewaltigung („Aruna’s Story“) und Kindesmissbrauch („Bitter Chocolate“) befasst. Als Aktivistin hat sie Gesetze gegen Missbrauch erstritten und mischt sich in die aktuelle Debatte ein. 2009 ist ihr erstes fiktionales Werk „Deaf Heaven“ erschienen. Zurzeit arbeitet sie an einem weiteren namens „Bloody Hell“. Die Muslimin ist mit einem Hindu verheiratet.

INTERVIEW JOHANNES GERNERT

sonntaz: 1973 wurde die Krankenschwester Aruna Shanbaug in einer Klinik im indischen Bombay von einem Putzmann mit einem Hundehalsband gewürgt und vergewaltigt. Er ließ sie bewusstlos zurück. Seitdem liegt sie im Koma. In Ihrem Buch „Aruna’s Story“ rekonstruieren Sie, was damals passiert ist. Der aktuelle Fall aus Delhi erinnert daran. Was hat sich seit damals geändert?

Pinki Virani: Tragischerweise gar nichts. Nicht für Aruna und nicht für dieses Land. Es ist, als müsse alles sich für immer in einem Schwebezustand befinden. Zwischen einer Vergangenheit, die nicht sterben darf, und einer neuen Welt, die nicht geboren werden kann – wie bei Aruna selbst.

Was bewirkt ein öffentlicher Aufschrei, wie es ihn auch damals gab, auf lange Sicht?

Arunas Schicksal schockte damals ganz Indien. Es war der extremste Fall von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, den man sich vorstellen kann. Nicht nur in Indien, sondern wahrscheinlich auf der ganzen Welt. Er wurde allerdings schnell zu jenen Erinnerungen gelegt, die die Leute vergessen wollen. Weil es nicht nur traurig ist, sondern auch Angst macht.

Inwiefern?

Es erinnert jeden Menschen an seine eigene Verletzlichkeit. Ganz Ähnliches könnte mit der Frau geschehen, die jetzt in Delhi vergewaltigt wurde. Immerhin wird es bessere Gesetze gegen Vergewaltigungen geben wegen des öffentlichen Aufschreis.

Hat das Justizsystem in Indien das Problem bisher ignoriert?

Von den 95.000 Vergewaltigungsfällen, die 2011 angezeigt wurden, kam es nur bei 15 Prozent zu einem Prozess. Das sagt eigentlich alles über das indische Justizsystem.

Viele suchen nach Ursachen, auch von Europa aus. Unterdrückte Sexualität, öffentliche Keuschheit? Tradition gegen Moderne? Das Kastenwesen?

Wenn es um die Ursachen für sexuelle Gewalt geht, unterscheidet sich Indien nicht von anderen Ländern. Sollte also jemand meinen, all diese Gründe treffen in seinem eigenen Land nicht zu, dann treffen sie auch nicht auf Indien zu. Und warum sollte Verbrechen eine Kaste haben, nur weil wir uns in Indien befinden? Die säkulare Verfassung sichert allen gleiche Rechte zu. Ist Verbrechen nicht auch in Deutschland kastenfrei?

In Deutschland gibt es keine Kasten.

Dieses unsinnige Thema ploppt nur immer dann auf, wenn es um Frauen geht. Mich hat mal ein spanischer Journalist gefragt: Warum haben Sie in Ihrem Buch nicht klargemacht, dass Aruna der höchsten Kaste angehört und der Putzmann, ihr Vergewaltiger, der niedrigsten? In dieser Woche sagte der Vater der vergewaltigten Frau: „Meine Tochter hätte diesen Jungen nicht heiraten können, mit dem sie im Kino war. Er gehörte einer anderen Unterkaste an.“ Egal wo eine Frau steht: Männer sehen sie vor allem als Teil einer Kaste.

Eine weitere Deutung: Bestimmte Männer kommen in der männerdominierten indischen Gesellschaft nicht damit klar, dass Frauen über ihnen stehen, manche wehren sich auf diese grausame Weise, um ihre vermeintliche Überlegenheit zu demonstrieren.

Deshalb vergewaltigen Männer Frauen – überall auf der Welt. Was die Situation in Indien verschärft, ist das Bevölkerungswachstum, das Patriarchat und die Gesetzlosigkeit. Im vergangenen Jahrzehnt sank der Einfluss des Rechtssystems, Richter und die Polizei fühlen sich niemandem mehr verantwortlich. Regierung und Opposition verschärfen das Chaos in Gesellschaft und Politik.

Wie äußerst sich das im Alltag?

Indische Frauen, besonders die der Mittelklasse, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, versuchen Entscheidungen zu treffen. Manche so simple wie: Ich möchte das Gefühl für meine persönliche Freiheit stärken, indem ich mit einem männlichen Freund ins Kino gehe. Dabei gilt der indische Norden als deutlich unsicherer für Frauen als der Westen oder der Süden. Die junge Frau in Delhi hat diese Entscheidung für ihre Freiheit getroffen, und sie begegnete der übelsten patriarchalischen Brut und dem rohen Hass, der sie antreibt.

Was sind Ihre eigenen Erfahrungen?

Als ich in dem Buch „Bitter Chocolate“ über Kindesmissbrauch schrieb und als ich als erster Mensch in Indien öffentlich meine Geschichte als Missbrauchsopfer erzählte, beruhigte mich die Wärme, mit der mir Männer und Frauen begegneten. Gleichzeitig strahlte eine kleine Fraktion mit ihrem Schweigen eine spürbare Feindlichkeit aus.

In einem öffentlichen Brief an die Kommission, die Indien nun für Frauen sicherer machen soll, fordern Sie in bestimmten Fällen die Todesstrafe für Vergewaltiger. Glauben Sie wirklich, das senkt die Zahl dieser Verbrechen?

In meinen Empfehlungen sage ich vor allem, dass das Gesetz genderneutral werden muss. Wir haben schreckliche Fälle, in denen Männer vergewaltigt werden. Beim Modeln werden sie teils zum Oralsex gezwungen, Jungschauspieler in Bollywood werden herumgereicht. Über diese Fälle wird nur geflüstert, weil es kein Gesetz gibt, das Männern Gerechtigkeit verschaffen würde, wenn sie zur Polizei gehen wollen.

Und Sie fordern die Todesstrafe.

Für Gruppenvergewaltigungen habe ich die Todesstrafe verlangt. Ich bin auch dafür, dass Menschen mit dem Tode bestraft werden, die jemanden während eines Aufruhrs vergewaltigen. Und lebenslänglich für diejenigen, die die Ausschreitung angefacht haben, die zu der Vergewaltigung geführt haben, selbst wenn es Politiker sind. Viel zu viele Frauen und Mädchen werden als eine Art Nebenprodukt von solchen Ausschreitungen vergewaltigt. Aber die Vergewaltigungsrate kann sich höchstens stabilisieren – wenn den Opfern zügig Gerechtigkeit widerfährt.

Sie kämpfen nun seit mehreren Jahren dafür, dass Aruna Shanbaug sterben darf.

Am 1. Juni wird sie wieder Geburtstag feiern, eingeschlossen in ihr Zimmer. Wieder ein Geburtstag, ihr 65., und der 40., an dem die Sonne ihren Körper nicht berührt hat. Wieder ein Geburtstag, an dem sie keine Medikamente bekommt, nicht einmal einen Katheter. Sie liegt in ihrem eigenen Kot, bis die Krankenschwestern sie irgendwann mal saubermachen.

Ihre Klagen haben ein neues Gesetz bewirkt, das passive Sterbehilfe erlaubt, aber keine Veränderung für Aruna Shanbaug bringt.

Der Oberste Gerichtshof könnte ihr passive Sterbehilfe zugestehen. Man müsste die Nahrungszufuhr stoppen – so wie es internationale Normen für diesen Prozess verlangen. Wird die kollektive Feigheit diese Frau weiterhin dazu verurteilen, in dieser Hölle zu leben? Ich fürchte, ja.