Zeit für den Aufstand der Zwerge

Die britische EU-Präsidentschaft hat es erneut gezeigt:Die Chefs der großen Mitgliedsländer taugen nicht als Leithammel für Europa

Die Neuen haben ein doppeltes Interesse daran, dass der Lähmungszustand Europas beendet wird

Was hinter den dicken Mauern des Gruselschlosses Hampton Court vergangenen Donnerstag gesprochen wurde, werden wir nie erfahren. Glaubt man dem Gastgeber, ging es wieder mal um die drängenden Fragen, wie Arbeitsplätze geschaffen, die Sicherheit verbessert und Europa nach vorn gebracht werden kann. Das interessiert die Bürger viel mehr als das Gefeilsche ums Geld und die Machtbalance zwischen Rat, Kommission und Parlament, glaubt Tony Blair.

Da die Ratssitzungen weiterhin unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, werden wir nie wissen, ob uns der Inhalt interessiert hätte. So erfahren wir nach dem Treffen von Hampton Court nur das, was Blair preisgeben will, und das, was er sich auf Fragen von Journalisten entlo-cken lässt. Das geplante Rauchverbot in Restaurants und am Arbeitsplatz ist in Großbritannien Thema Nummer eins. Auch im EU-Halbjahr ist man auf der Insel hauptsächlich mit sich selbst und der Weltpolitik beschäftigt. Europa bleibt eine Randnotiz.

Dabei ist es gerade einmal vier Monate her, dass Großbritanniens Regierungschef das Image des europaverdrossenen Insulaners mit einer einzigen feurigen Rede abstreifte. Im Europaparlament in Straßburg überzeugte er die Abgeordneten davon, dass er die sechs Monate als europäischer Ratspräsident für einen Neuanfang nutzen wolle. Die brennenden Fragen werde er in Angriff nehmen: Arbeitsplätze, Sicherheit, illegale Einwanderung in die EU.

Zwei Drittel des britischen Vorsitzes sind um. Spätestens nach dem ergebnislosen Treffen in Hampton Court stellt sich der Verdacht ein, dass es Blair mit seinen Ankündigungen nicht ernst gewesen ist. Armutsbekämpfung, Klimawandel, Kampf gegen Aids und internationalen Terrorismus stehen auf seiner Agenda ganz oben. Für Europas Innenleben hat er nur zwei Rezepte parat: radikale Wirtschaftsliberalisierung und Abbau von Brüsseler Bürokratie.

Die EU-Erweiterung treibt er dagegen aktiv voran, am liebsten entlang den Nato-Grenzen. Die Frage, ob Europa durch eine Mitgliedschaft der Türkei überfordert sei, werde zweitrangig, sagt Tony Blair. Angesichts der internationalen Bedrohungen gehe es darum, wichtige Bündnispartner enger an sich zu binden.

Es ist sicher kein Zufall, dass die britische Liste der drängendsten Aufgaben in vielen Punkten mit dem übereinstimmt, was auch US-Präsident Bush für vorrangig erklärt hat. So hat Innenminister Charles Clarke seinen europäischen Kollegen mehrfach erklärt, die Europäische Menschenrechtskonvention müsse angesichts der Bedrohung durch islamistische Fanatiker in anderem Licht gesehen werden. Das Sicherheitsbedürfnis der Bürger wiege mindestens ebenso schwer wie das europäische Grundprinzip, die Menschenrechte zu wahren.

Der Union ist der Grundkonsens abhanden gekommen. Das lähmt sie, nicht nur in der fundamental wichtige Verfassungsfrage. Dass die alten Strukturen für den erweiterten Kreis der 25 Mitglieder nicht mehr angemessen sind, macht alles noch schlimmer. Eine Diskussion darüber, wie es weitergehen soll, wurde zwar sowohl von Blair als auch von Kommissionspräsident Barroso eingefordert. Doch nach dem Schock der gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden ist keine europapolitische Debatte in Gang gekommen. Stattdessen hat sich resigniertes Schweigen bei denen breitgemacht, die sonst gern und laut über Europa nachdenken.

Auch das fehlende finanzielle Fundament verhindert einen neuen Aufbruch. Solange nicht klar ist, wie von 2007 an das Geld unter neuen und alten Mitgliedstaaten, unter armen und reichen EU-Ländern aufgeteilt werden soll und wie viel wir uns die Nachbarschaftspolitik kosten lassen, solange laufen Planungen für Europas Zukunft ins Leere. Friedenspolitik auf dem Balkan, Flüchtlingspolitik in den nordafrikanischen Mittelmeer-ländern, Vorbeitrittshilfen für die Türkei – all das kostet Geld.

Die Chefs der großen Mitgliedsländer taugen nicht als Leithammel für die EU, das hat die britische Präsidentschaft wieder gezeigt. Sie schaffen es nicht, in die Rolle des ehrlichen Maklers zu schlüpfen und ihren eigenen Führungsanspruch zugunsten der Gemeinschaft zurück zu stellen. Hinzu kommt, dass Frankreich und Deutschland aus innenpolitischen Grün-den als Motor ausfallen. Österreich und Finnland werden im kommenden Jahr den Karren wieder flott machen müssen. In der Vergangenheit haben sie bereits gezeigt, dass unter ihrer Führung Kompromisse möglich sind. Doch eine Dauerlösung ist dieses Hin und Her zwischen Großen und Kleinen, zwischen Europabefürwortern und heimlichen Isolationisten nicht. Die Zeit ist reif für einen Aufstand der Zwerge.

Unterhalb der Verfassungsebene ist hier vieles denkbar, was Fakten schaffen und den Großen Dampf machen könnte. Bereits jetzt hat, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, die Eurogruppe die Unsitte aufgegeben, ihren Vorsitzenden alle sechs Monate auszutauschen. Für zwei Jahre führt Jean-Claude Juncker den Vorsitz, sorgt für Kontinuität und gibt als Mister Euro der Währung in internationalen Gremien mehr Gewicht. In anderen Politikbereichen könnte das auch funktionieren.

Durch das Getöse der Großen wird oft vergessen, dass die kleinen Länder in der EU in der Überzahl sind

Wer hindert die kleinen Länder daran, sich die Botschaftsposten zu teilen, damit viel Personal und Geld zu sparen und Einfluss zu gewinnen? Kleine Länder wie Finnland und Österreich, deren Präsidentschaft aufeinander folgt, könnten sich zusammenschließen und sich den Job für die Dauer eines ganzen Jahres teilen. Vor allem aber müssen die Kleinen die Richtungs- und Wertedebatte vorantreiben. Da funktioniert die Europäische Union nicht anders als eine Schulklasse voller Teenager: Nichts erzeugt mehr Gruppendruck und macht eine Clique interessanter als das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Durch das Getöse der Großen wird oft vergessen, dass die kleinen Länder in der EU in der Überzahl sind. Seit der Erweiterung im vergangenen Mai sind neun Stühle zusätzlich mit Regierungsvertretern kleiner Mitgliedstaaten besetzt. Die Neuen haben ein doppeltes Interesse daran, dass der Lähmungszustand Europas beendet wird. Zum einen brauchen sie einen Finanzkompromiss, um ihre Strukturprojekte planen zu können. Zum Zweiten brauchen sie ein starkes Europa, um nicht zwischen den Großen zerrieben zu werden.

Das macht sie zu natürlichen Verbündeten der Zwerge, die schon länger zur EU gehören: Den Benelux-Staaten, den Nordländern, dazu Griechenland und Spanien. Hört man sich im Kreis der Kleinen um, ist der Zorn über die verfahrene Lage mit Händen zu greifen. Den zweiten Schritt, sich mit den anderen Zwergen enger zusammenzuschließen und damit die Großen unter Druck zu setzen, trauen sich aber die neuen Mitgliedsländer noch nicht zu. Man könnte sich vorstellen, dass sich bei Guy Verhofstadt und Jean-Claude Juncker genug Ärger angesammelt hat, um ihnen auf die Sprünge zu helfen. DANIELA WEINGÄRTNER