Wahlkampf ohne Wahltermin

Boliviens Wahlbehörde verschiebt die Präsidenten- und Parlamentswahl. Favorit Evo Morales droht mit Massenprotesten. Präsident Rodríguez will Wahlen im Dezember

PORTO ALEGRE taz ■ Boliviens Linke hat Oberwasser. Am Samstag rief ihr Präsidentschaftskandidat Evo Morales: „Wenn sie nicht wollen, dass wir auf demokratischem Weg gewinnen, dann: Vorsicht! Das Volk könnte sich erheben, um die Macht mit Gewalt zu erringen.“ Tausende Kokabauern waren zur Wahlkampfveranstaltung von Morales' „Bewegung zum Sozialismus“ nach Chimoré im tropisch warmen Chapare-Tiefland geströmt und hatten ihrem früheren Gewerkschaftsführer einen begeisterten Empfang bereitet.

Morales' trotzige Warnung kommt nicht von ungefähr. Tags zuvor hatte die nationale Wahlbehörde nämlich erklärt, die Parlaments-, Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen könnten aus logistischen Gründen nicht mehr wie geplant am 4. Dezember abgehalten werden. Hintergrund ist ein erbitterter Streit über die künftige regionale Sitzverteilung im Parlament.

Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichts im September hätten sich die Abgeordneten bis zum Freitag auf einen neuen Zuschnitt der Wahlkreise einigen müssen, der den Bevölkerungszuwachs in den Provinzen Cochabamba und Santa Cruz berücksichtigt. Politiker aus Santa Cruz in Ostbolivien drohten mit der Ausrufung der Autonomie, falls die Anzahl ihrer Abgeordneten nicht erhöht wird.

Ganz im Gegensatz zum bürgerlichen Lager strahlt die Linke unter Evo Morales derzeit ungewohnte Eintracht aus, und seit Wochen führt Morales die Meinungsumfragen vor dem ultraliberalen Expräsidenten Jorge Quiroga an. Selbst dass der Exgewerkschafter eine Stichwahl im Parlament für sich entscheiden könnte, scheint nicht mehr ausgeschlossen.

Nicht zufällig sagte Quiroga vorgestern, Morales habe gar kein Interesse an Wahlen und wolle über einen Aufstand an die Macht kommen. Übergangspräsident Eduardo Rodríguez hingegen will dieser Tage versuchen, die Wahlen im Dezember doch noch zu ermöglichen, notfalls per Dekret. „Die Demokratie und die Einheit des Landes“ stünden auf dem Spiel, sagte ein Präsidentensprecher. Der seit Juni amtierende Jurist Rodríguez wolle jedenfalls zum verfassungsmäßigen Termin am 2. Januar 2006 abtreten.GERHARD DILGER