Schere beim Lernen öffnet sich

Vorabergebnisse des Pisa-Ländervergleichs zeigen: Schüler aus reichen Elternhäusern verbessern sich, sozial Benachteiligte werden weiter abgehängt

BERLIN dpa/taz ■ Die mangelnde Chancengleichheit in den deutschen Schulen bleibt das gravierendste Problem des deutschen Bildungssystems. Das zeigen Ergebnisse des vertieften Bundesländervergleichs, die gestern vorab bekannt wurden. Danach haben deutsche SchülerInnen aus reichen Elternhäusern selbst bei gleicher Intelligenz und gleichem Wissensstand eine viermal so große Chance, das Gymnasium zu besuchen, als ein Gleichaltriger aus einer ärmeren Familie. Das bedeutet, dass der Weg zum Abitur und der Zugang zum Studium ganz extrem von der sozialen Herkunft abhängt.

Die Vorabmeldungen stammen aus dem zweiten Pisa-Bundesländervergleich, den die Kultusminister am Donnerstag in Berlin vorstellen wollen. Eine erster, oberflächlicher Teil des Vergleichs war in Form einer Tabelle im Juli vorgestellt worden. Damals hieß es, die deutschen SchülerInnen hätten sich bei Pisa 2003 gegenüber dem ersten Pisavergleich 2000 durchgehend verbessert. Die damaligen Ergebnisse bezogen sich aber auf Durchschnittswerte der Schülerleistungen. Nun kommen die mit Spannung erwarteten Daten für die soziale Abhängigkeit der Schülerkompetenzen – und die sind nach wie vor schlecht.

Insgesamt ist laut der Untersuchung der Wissensvorsprung der 15-jährigen Schüler aus der Oberschicht gegenüber dem ersten Test im Jahr 2000 noch deutlich gewachsen. In Mathematik und Naturwissenschaften sind diese Schüler inzwischen Gleichaltrigen aus Arbeiterfamilien im Bundesdurchschnitt mehr als hundert Pisapunkte voraus. Das entspricht einem Lernfortschritt von deutlich mehr als zwei Schuljahren.

Bereits der erste Pisa-Test hatte belegt, dass in keinem anderen Industriestaat der Welt das Schulsystem bei der Förderung von Arbeiter- und auch Migrantenkindern so sehr versagt wie in Deutschland. In Bayern ist die Chancenungleichheit auf dem Weg zum Abitur besonders stark ausgeprägt. Kinder aus der Oberschicht haben im Freistaat eine 6,65 Mal größere Chance, das Gymnasium zu besuchen und die Reifeprüfung abzulegen, als Schüler aus einem Facharbeiterhaushalt.

Der Pisabericht 2003 hat die mathematischen Kompetenzen von 15-jährigen Schülern zum Gegenstand. Die jetzt vorliegende Veröffentlichung wertet eine erweiterte Stichprobe von knapp 45.000 deutschen Schülern aus allen Bundesländern aus. Bei den reinen Durchschnittswerten hatte sich das Bundesland Bayern auf einen Wert von 533 Pisapunkten gesteigert – und lag damit nur noch 10 Punkte hinter der Weltspitze. Auch Länder wie Brandenburg und Sachsen-Anhalt hatten sich erheblich verbessert.

Die Pisaexpertin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, zeigte sich gestern nicht überrascht. „Es war von Anfang an klar, dass die vorgezogene Veröffentlichung im Juli nur dem Wahlkampf dienen sollte“, sagte Demmer. Sollten sich die Daten bestätigen, sei die Strategie der deutschen Kultusminister endgültig gescheitert. Die Minister konzentrierten sich zu sehr auf die Verbesserung der kognitiven Schülerleistungen – und bevorzugten dabei die gehobenen Schichten. „Was nutzt es uns, wenn die Ergebnisse der Gymnasiasten besser werden und wir gleichzeitig die Hauptschüler weiter abhängen?“, fragte Demmer, die dem Hauptvorstand der Gewerkschaft angehört.

Zieht man jetzt für die Bewertung der 16 Schulsysteme in den Bundesländern sowohl die reinen Schülerleistungen als auch die soziale Förderung heran, so gilt Sachsen als der eigentliche deutsche Sieger des zweiten Pisa-Schultests. Der Chancenvorteil für Kinder aus reichen Familien ist dort 2,79-mal so hoch. Auch Arbeiterkinder haben damit eine relativ gute Chance, die Hochschulreife zu erlangen. Zugleich hatte Sachsen mit seinem zweigliedrigen Schulsystem aus Gymnasium und Regelschule – kombinierte Haupt- und Realschule – beim reinen Leistungs-Ranking den bisherigen Pisa-Zweiten Baden-Württemberg zum Teil auf den dritten Platz verwiesen.